: Im Heiligenschein
■ Rock over Germany in Lüneburg „Backstage“: Große Stars in kleinen Containern und andere Impressionen
Die letzten Töne von Rock Over Germany verhallten am Sonntagabend in Lüneburg mit „Sailing“. Drei Tage lang hatten auf dem Flughafenfeld 40.000 bis 100.000 Besucher täglich zwischen Ausgelassenheit und Erschöpfung geschwankt. Gekommen waren sie wegen des größten Giga-Mainstream-Auflaufs an Superstars, den der Norden in diesem Jahr zu sehen bekam: Joe Maffay, Pur Prince, Peter Cocker, Tina Stewart, Chris de Turner, Rod Burgh, Orchestral Manouvres in the Duran, Paradocs Foreigner und viele andere Sternchen mehr.
Backstage, in dem kleinen Containerdorf der Musiker, ging es gelassener zu. Nur einer, der über die Barrikaden kletterte, um auch im Heiligenschein der Popmusik zu baden, wurde von den Ordnern abgeführt. Die Organisation klappte sehr viel besser als vor drei Jahren. Beschwerden der Aids-Initiative, über geheuchelte Solidarität der Veranstalter, weil man sie an den hintersten Rand des Geländes verbannt hatte, trübten diesen Eindruck allerdingsein wenig. Überschattet wurde das deutsche „Woodstock“ von einer Vergewaltigung, sowie einer versuchten Vergewaltigung. Love, Peace and Happiness unter den Mühlen der Super-Kommerzialität.
Fast alle Musiker äußerten sich zufrieden mit dem Verlauf des Festivals: „Ich bin in Sommerset auf dem Lande im Westen Englands geboren. Die grasenden Schafe am Straßenrand erinnerten mich daran, als wir, mit der Polizeistreife vorneweg, auf den Nebenstraßen, vorbei am Flüssen und Feldern, zu unserem Auftritt gefahren sind. Es ist wirklich eine fabelhafte Umgebung für unseren Gig gewesen.“, schwärmt Foreigner-Gitarrist in seiner Container-Bleibe. Er gehört zu den Künstlern, die auf dem Teppich geblieben sind. Dagegen wirken Andy Taylor und Simon Le Bon, Gitarrist und Sänger von Duran Duran, nach ihrem überraschend gelungenen Comeback mit dem Wedding-Album eher aufgekratzt und überdreht. Kurz nachdem sie von der Bühe kamen, fand man sie in ihrem grell hergerichteten Container, in dem Taylors leuchtendrote Haarfärbung gar nicht weiter auffiel. Taylor über Le Bon: „Er war fantastisch heute abend. Naja, wenn er vor Prince singt, dann gibt er sich eben besondere Mühe.“ Simons's Antwort - ohne Worte: ein Küßchen für seinen Kumpel. Dieser fährt sich nocheinmal mit der Hand durch sein steiles Haar, bevor beide mit den ersten wummerden Basshammerschlägen zu Prince eilen.
John „Marathon“-Miles taucht die wundgeschrammelten Finger nach seinem Konzert in Alkohol, auf daß seine Hornhaut noch dicker wird. Denn nach insgesamt fünf Stunden ist seine Gitarre auch für Joe Cocker und Lady Turner im Einsatz gewesen. Bei letzterer ihrem Konzert schrie ein „Fan“: „Die schärfste Mutti, die hier rumläuft!“ Das sind die Sexismen, aus denen das Massenpublikum besteht.
Sänger Andy McCluskey von OMD erzählte, er habe es schwierig gefunden, auf einer Doppelbühne von 148 Meter Breite, auf der die Hälfte der Zuschauer ihn jeweils nur von der Seite sehen konnte, die „Masse in seinen Bann zu ziehen“. Aber auch er lachte später lauthals und war quietschfidel.
Jon Secada machte auf seinem Sofa keinen überdrehten Eindruck - trotz seines Blitzerfolges mit dem Song „Just Another Day“. Sein Album soll im kommenden März erscheinen und ein Stück weiter in die R&B-Richtung gehen. Und nur wenige wissen, daß er ein versierten Jazzer ist und viele Titel für Gloria Estefan geschrieben hat. Dem Präsentator NDR 2, der sonst besser berichtete, als man es von der staatlichen Privatradio-Konkurrenz gewohnt ist, gelang allerdings am Freitagabend ein satter Fauxpas: Volker Thormählen, Chef am Mikrofon, ließ die Lüneburger Landeszeitung minutenlang On Air über ihre Sonderbeilage plaudern (die Verkehrshinweise waren spannender). Da gab ein Lob das andere: Journalisten unter sich, während 70.000 in Schlamm und Regen tapfer ihren Prince feierten.
Und ob Klein- oder Groß-Format: bei Boulevardblättern wackelte die Heide mehrmals durch die Schlagzeilen. Ausgiebig am Wackelpudding genascht?
Olaf Birkenhamster
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen