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Gradska – ein Dorf verschwindet

Der Bezirk Ljubuski in der Herzegowina wurde unblutig „ethnisch gesäubert“ / Gerade rechtzeitig zur Gründung der „Kroatischen Republik Herceg-Bosna“ ist die Region „moslemfrei“  ■ Aus Ljubuski Erich Rathfelder

Tiefe Ruhe lastet über dem von der Sonne ausgedörrten Land. Unter den schon braunen Blättern der Bäume und Sträucher scheint selbst das Singen der Zikaden erstorben. Nur wenn der Wind etwas stärker wird, rascheln die Blätter der Tabakpflanzen, die dieser Tage zu ernten wären. Doch die kleinen Äcker, die dem steinigen dalmatinisch-westherzegowinischen Hochland von vielen Generationen fleißiger Hände abgerungen wurden, sind verlassen. Hier liegt eine Hacke, als sei sie achtlos auf die bröckelige Krume geworfen, dort ein Kleidungsstück, als sei es zwischen die Reihen der Maispflanzen geweht.

Aus dem nahe gelegenen Dorf dringt kein Laut herüber, kein Hundebellen, kein Kindergeschrei, kein Hühnergackern, und auch nicht das Dröhnen der hier üblichen Dieselmotoren. Bald schon kommen die ersten Häuser in Sicht – und auch die Moschee von Gradska, dem einzigen rein moslemischen Dorf in der von Kroaten dominierten bosnischen Region Westherzegowina. Was ist hier geschehen? Wo sind die Menschen dieses Dorfes? Hinter einer Kurve ist eine Straßensperre errichtet. Zwei bewaffnete Gestalten lösen sich aus dem Schatten des stacheligen Gestrüpps, das die Wälle aus Stein überwuchert, die hier die Straße begrenzen. Da anscheinend in Besitz der „richtigen“ Papiere, dürfen die Besucher, zwar argwöhnisch beäugt, passieren.

Dann erreichen wir die ersten Häuser. Die Türen scheinen fest verschlossen, die Fensterläden festgezurrt. Noch immer ist keine Menschenseele zu sehen. Dabei quirlte hier noch vor vier Wochen das Leben. Dutzende von Kindern liefen dem Wagen der ausländischen Journalisten nach, die Einwohner des 400-Seelen-Dorfes traten aus den Häusern. Und unter der schattenspendenden jahrhundertealten Eiche des Platzes saßen an die dreißig Männer, die die Fremden mit besorgten Gesichtern, aber freundlich begrüßten. Über die Gefahr, in der sie schwebten, wollten die Einwohner von Gradska auch damals keine Auskunft geben. „Wir haben der Stadtverwaltung von Ljubuski versprochen, Journalisten nichts zu sagen“, hieß es.

Die Männer von Gradska wollten nicht über die Angst sprechen, die ihnen anzusehen war, und auch nicht über die Abmachungen, die mit den westherzegowinisch-kroatischen Behörden getroffen waren. Sie waren offensichtlich froh, bislang in Frieden gelassen worden zu sein.

Die Muslimanen in den benachbarten Gebieten sorgen sich zu diesem Zeitpunkt schon um ihre Zukunft. In dem Nachbarbezirk Čapljina, der an die schwer umkämpfte Stadt Mostar grenzt, waren Anfang August bereits viele muslimische Familien von den kroatischen Behörden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden. Die, die noch bleiben konnten, mußten am 20. August weichen. Und alle Männer zwischen 18 und 60 waren in Čapljina Anfang Juli dieses Jahres in den Gefangenenlagern Dretelj und Gabela verschwunden. „In Capljina ist die Hölle los“, war die geflüsterte Botschaft eines der Männer aus Gradska, als er uns vor vier Wochen die Hände zum Abschied reichte.

Heute sind die Bänke und Steine unter der jahrhundertealten Eiche verwaist. Hier auf diesem Platz mögen schon im 16. Jahrhundert die Vorfahren der Einwohner von Gradska gesessen haben. Damals wurde die Ortschaft gegründet, ein muslimisches Dorf in der Nähe der alten Türkenfeste von Ljubuski, umgeben von den Trutzburgen des Katholizismus und des Kroatentums. Hier in der Westherzegowina nämlich liegt das „kroatische Kernland“, das die Jahrhunderte währende Herrschaft des Osmanischen Reiches überdauert hat. Noch heute zeugen die hochragenden Kirchen der in der Nähe liegenden Kleinstädte Grude und Ćitluk von der Einheit des religiösen und nationalen Bekenntnisses der hier lebenden Kroaten.

„Wir sind immer gut miteinander ausgekommen, seit 400 Jahren gab es doch keine Probleme, so daß wir vor einem Jahr selbstverständlich gemeinsam gegen die serbischen Aggressoren kämpfen wollten“, hatte uns einer der unter der Eiche versammelten Muslime vor vier Wochen mit auf den Weg gegeben. Das Knacken, das von dem Entsichern der Waffen herrührt, ist in der Stille, die jetzt so bedrückend über dem Ort liegt, nicht zu überhören. Aus einem gegenüberliegenden Haus sind drei bewaffnete Männer getreten. Ihr Sprecher, ein bulliger Polizist, verbirgt seine Überraschung über das Auftauchen der Augenzeugen nicht. Um so harscher weist er unmißverständlich darauf hin, daß die Besucher sofort zu verschwinden hätten. Doch bleibt der Blick noch frei auf die Kisten, die von den dreien auf einen Lastwagen geladen werden. Es scheinen die Unterlagen aus dem Gemeindehaus zu sein, dessen Tür noch offensteht. Wo die Bewohner des Dorfes geblieben sind, will der Polizist nicht sagen. „Verschwindet endlich!“ ruft er nur.

Wieder die Stille. An den Stauden glänzen die reifen Tomaten im Sonnenlicht. Die Zweige der Pflaumenbäume biegen sich unter der Last der Früchte. Doch dieses Jahr wird niemand dasein, um sie abzuernten. Die Bewohner des Dorfes sind verschwunden. Dort drüben steht das Haus, wo uns eine freundliche Frau beim letzten Besuch Kaffee angeboten hatte. Es ist, wie alle Häuser in Gradska, fest verrammelt. Vor vier Wochen erzählten die Bewohner noch, daß sie eine Flüchtlingsfamilie aus Stolac aufgenommen habe. Über 600 Flüchtlinge seien insgesamt im Dorf. Auch der Garten, wo die beiden Jugendlichen aus Mostar Gitarrespielen übten, ist verwaist. Spuren von Kämpfen sind nicht zu sehen. Immerhin, ein Massaker hat es offenbar nicht gegeben. „Sie wurden alle abtransportiert“, gibt einer der Wachen an der Straßensperre Auskunft. „Am letzten Mittwoch, dem 1. September, ist der letzte Transport rausgegangen, am Mittwoch vorher der erste.“

Wohin wurden sie gebracht? Der kroatisch-herzegowinische Soldat zuckt nur mit den Achseln. „Nach Zagreb und dann ins Ausland“, meint er lapidar. Und ein bißchen kumpelhaft fügt er hinzu, daß Muslimanen und Kroaten nicht mehr zusammenleben könnten. Zwar seien die Bewohner des Dorfes Gradska immer friedlich gewesen, doch jetzt vertrieben Muslimanen die Kroaten aus den Gebieten, in denen sie das Sagen hätten. Und deshalb müßten die Muslimanen von hier weg. „Die Häuser werden jedoch durch uns geschützt, geplündert werden kann hier nicht.“ Die Straße schlängelt sich durch die karge Landschaft in Richtung der Burg und der darunterliegenden Stadt Ljubuski. Eine junge Frau, die aus einem Nachbardorf stammt, beantwortet die Frage nach dem Verbleib der Leute von Gradska mit einem Achselzucken. „Sie sind weg nach Zagreb.“ Etwas Genaues wisse sie nicht, und sie kümmere sich auch nicht darum. In ihrem Dorf gebe es nur Kroaten. Auch der alte Mann, der im Schatten eines Baumes sitzt, will nichts gesehen haben. „Die Muslimanen sind weg, wir Kroaten bleiben unter uns.“ Es ist nicht nur der aufziehende kühle Wind, der die Haut frösteln läßt. Auch im Stadtkern von Ljubuski sind die kroatischen Einwohner unter sich. In den Cafés der Hauptstraße sitzen viele junge Leute, die Frauen schick und schön, die muskelbepackten Männer geben sich mit ihren obligatorischen Sonnenbrillen selbstbewußt. Obowohl der Krieg nur einige Kilometer entfernt ist, tragen die Menschen in Ljubuski ihr Wohlergehen offenbar gern zur Schau. Schnelle Mittelklassewagen sind in Sichtweite geparkt. „Hier kannst du einen Mercedes für 6.000 Mark kaufen und die gefälschten Papiere gleich dazu“, sagt ein Kellner und lächelt verschmitzt.

Manche machten einen ganz schön Reibach mit dem Handel mit den Serben. „Mit denen gibt es ja kaum noch Schwierigkeiten. Selbst am noch vor einem Jahr umkämpften Kuprespaß kannst du mit den Serben handeln. Die verkaufen alles, Schafe und Waffen und Munition, eine Kalaschnikow für 150 Mark, eine Panzerfaust für 80 Mark. Die wollen Zigaretten und elektrische Geräte, Walkmen und so weiter.“ Im Bürgermeisteramt dagegen bröckelt der Putz von den Wänden, von den Gewinnen aus den illegalen Geschäften hat die Gemeindeverwaltung offenbar nichts abbekommen. Und auch sonst wirkt alles noch herkömmlich strukturiert. Der Bürgermeister Milan Simić ist nicht zu sprechen, auch nicht sein Stellvertreter oder der Polizeipräsident. „Über 90 Prozent der Einwohner von Gradska sind jetzt schon im Ausland, und zwar ganz legal“, erklärt ein Beamter der Stadtverwaltung schließlich.

Die meisten der 1.560 Muslimanen des Stadt Ljubuski hätten durch Einladungen von Verwandten und deren Garantieerklärungen Visa aus Deutschland, der Schweiz, der Türkei, Spanien und anderen Ländern erhalten. Er deutet auf einen Stapel von Anträgen, die auf seinem Schreibtisch liegen. Da bestätigt das Kreisverwaltungsreferat von München für eine Familie die Möglichkeit, nach Deutschland einzureisen. „Der Bürgermeister hat die Schlüssel aller Häuser der moslemischen Bewohner aus Gradska“, fügt der Beamte noch hinzu. Das Eigentum sei nicht auf die Gemeinde übertragen worden, irgendwann könnten die Bewohner vielleicht zurückkommen. Es sei jedoch vereinbart, daß kroatische Flüchtlinge aus Zentralbosnien in die Häuser ziehen könnten. Und davon gebe es insgesamt 1.500. Rechne man die kroatischen Flüchtlinge von vor einem Jahr hinzu, so seien es sogar rund 6.000.

War dies das Abkommen mit der Stadtverwaltung, über das die Bewohner von Gradska vor einem Monat nicht sprechen wollten? „Die Leute wollten nicht zur bosnischen Armee überlaufen“, gibt der Beamte preis. Konnten sie mit ihrem Stillhalten erreichen, was anderen Muslimanen der Region nicht gelungen ist? Nämlich zu vermeiden, in einem der Lager interniert zu werden? Und was ist mit jenen passiert, die keine Einladungen erhalten konnten oder als Flüchtlinge in Gradska und der Stadt Ljubuski lebten? „Die meisten sind inzwischen auf der anderen Seite“, das heißt im von der bosnischen Armee kontrollierten Gebiet jenseits der Frontlinie.

Auch auf dem Hang hin zur Burg sind viele Häuser verrammelt. Hier wohnten die Muslimanen der Stadt. Die Moschee ist fest verschlossen. Zwei junge Mädchen, eine Serbin, die andere Muslimanin, sitzen auf den Stufen hin zum Gotteshaus. Ihre Familien wollten bleiben, für Serben gebe es jetzt kein Problem. Doch die 15jährige Aida bleibt besorgt. „Vielleicht müssen auch wir weg, ich will aber nicht, ich habe einen kroatischen Freund.“ Alle moslemischen Männer zwischen 18 und 60 seien ins Lager gekommen, nur nicht ihr Vater, der schon älter sei. Alle Leute hätten ihre Tiere verkauft, um das Reisegeld zusammenzubekommen: „Eine Kuh kostete nur noch 300 Mark“. Auch Razim will nach Deutschland oder in die Schweiz. Er stammt aus einer albanisch-serbischen Familie. Sein Vater, ein Albaner, überlege noch, ob er bleiben will. „Hier ist aber kein Leben mehr für uns. Wenn Bosnien noch so wäre, wie es früher war, würde ich bleiben wollen. Denn das war schön, sehr schön. Wir haben doch alle gut zusammengelebt.“

Doch an diese Zeit wird sich Razim nur noch erinnern können. Immerhin ist hier, anders als in den Nachbarbezirken Čapljina und Mostar, unblutig vorgegangen worden. Das Resultat ist jedoch das gleiche: die Region ist jetzt fast „moslemfrei“, und das rechtzeitig zur Gründung eines neuen Staates: Die „Kroatische Republik Herceg- Bosna“ wurde am 28. August 1993 durch ihren „Präsidenten“ Mate Boban ausgerufen.

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