: Populismus der Befreiung und Revolution
■ Beifall und Ratlosigkeit nach einer Lesung des nicaraguanischen Dichter-Priesters Ernesto Cardenal / Vor allem im Osten war Cardenal ein Symbol der Hoffnung
Sauber gekämmt lugen die grauen Haare unter der obligatorischen Baskenmütze hervor. Ein bewegtes Mienenspiel ums bärtige Kinn, die rechte Hand weist mal in die Ferne, mal auf den Boden, mal sucht sie den angeflehten Gott in der Kuppel des Zeltes im Skulpturenpark hinterm Tacheles. Ernesto Cardenal, der einst wohl bekannteste Vertreter des „neuen Nicaragua“, bat zur Lesung, und über einhundert Interessierte kamen am Montag abend ins ungeheizte Zelt.
Sie hängen trotz der Kälte gebannt an seinen Lippen, als er sein altes „Gebet für Marilyn Monroe“ zu lesen beginnt. Viele sind im Saal, die vor Jahren durch Ernesto Cardenal zur Nicaragua-Solidarität gekommen sind – aus dem Westen, aber besonders aus den unabhängigen kirchlichen Gruppen im Osten. „Ernesto Cardenal und Nicaragua – das war für uns eins“, erzählt Willi Volks vom INKOTA- Netzwerk. Damals in der DDR gab es die „Initiative Hoffnung Nicaragua“; die Hoffnung auf das Zusammengehen von Christentum und Revolution. Ernesto Cardenal war das Symbol. Ernesto Cardenal, der vom Papst geschaßte Priester, der in seiner Basisgemeinde die Theologie der Befreiung lehrte, sie als Dichter zu verbreiten verstand und als Minister die Revolution unterstützte. Nun sitzt er da im kalten Zelt, der älter gewordene Mann, und liest aus seinem neuen Buch – schließlich ist er auf Einladung des Wuppertaler Hammer-Verlages in Deutschland, und der will verkaufen.
Fragmente sind es, die er liest, unterstützt von der sonoren Stimme Klaus Cöttes, der die deutschen Übersetzungen vorträgt. Cötte spricht klar, Ernesto nuschelt. Nicht nur, daß er wie alle NicaraguanerInnen das „s“ verschluckt, er leidet auch unter einem Gaumenfehler von De Maizièreschem Ausmaß. „Warum ist das Universum so, wie wir es sehen? ist die Frage. Weil es, wenn es anders wäre, niemand sehen würde, ist die Antwort.“ Solcherlei Sinnsprüche fürs Kalenderblatt lösen befreites Lachen aus.
Wenn er über die Evolution spricht, über die „Fossilien in den Tiefen des Meeres und im Weißen Haus“ oder gedehnt „Wall Street Journaaaal – Neandertaaaaal“, dann vermischt sich das Regenprasseln auf dem Dach mit tosendem Beifall. Die Fortpflanzung als Sinn des Lebens („Was machen Eidechsen? Mehr Eidechsen!“), Angst vor der Übermacht der Computer-Technik, („Computer machen im Unterschied zum Menschen jeden Fehler nur einmal, so besiegen sie uns im Schach“), so kalauert es sich dahin und landet, na logisch, bei der Revolution. Mit seinem Gedicht für Laureano, den gefallenen Compañero, der immer sein Meßdiener war, aber Guerillero sein wollte und für die Revolution bereit war, auf den Tod zu scheißen, endet die Lesung.
Heinrich Fink, Ex-Direktor der Humboldt-Uni, übernimmt die Moderation, zögernd kommen die ersten Fragen. Wie er denn Gewaltlosigkeit und bewaffneten Kampf zusammenbringe, will eine Frau wissen. Ernesto referiert über den „gerechten Krieg“. Warum Ernesto meine, die nicaraguanische Revolution sei nicht gescheitert, fragt Heinrich Fink. Na ja, das sandinistische Projekt sei ein ehrliches und demokratisches gewesen, und die Wahlen seien nur verloren worden, weil die US-Administration soviel Druck ausgeübt habe.
Ein Ossi fragt, wie mit der Sünde des Geldes umzugehen sei. „Eher paßt ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß der Kapitalismus ins Himmelreich führt“, antwortet Cardenal. Ja, das ist schön. Kuba? „Das größte Verbrechen der USA.“ Die Welt ist so einfach, hier im Zelt. Und als Ernesto beschwört, daß die Theologie der Befreiung eigentlich „Theologie der Revolution“ heißen müsse, denn Revolution brauchen alle, Befreiung nur manche, da ziehen die Nicaraguaner in der fünften Sitzreihe eine Rumflasche heraus und nehmen einen tiefen Schluck, und Ernesto signiert seine Bücher. Bernd Pickert
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