: Nach den Menschen stirbt der Staat
■ Der bosnische Präsident Izetbegović stimmte gestern in Genf der Zerschlagung des Staates Bosnien-Herzegowina zu / Muslime auch Verhandlungsverlierer / Union wird Übergangsregelung
Genf (taz) – Großserbien und der erste muslimische Staat in Europa – dieses Ergebnis von anderthalb Jahren Krieg in Bosnien-Herzegowina sowie über zwölfmonatiger Verhandlungen wurde gestern in Genf besiegelt. Zuvor hatte der von seinen jüngsten Gesprächen mit US-Präsident Clinton und dem UNO-Sicherheitsrat restlos enttäuschte bosnische Präsident Alija Izetbegović seine Vorbedingungen für die Unterzeichnung eines Abkommens aufgegeben. Am Dienstag soll das Todesurteil für den einst multikulturellen Staat Bosnien-Herzegowina auf dem Flughafen von Sarajevo von den drei Kriegsparteien offiziell unterschrieben werden.
In einer vierseitigen Vereinbarung mit dem Präsidenten des selbsternannten bosnisch-serbischen Parlaments in Pale, Momcilo Krajisnik, stimmte Izetbegović gestern zu, daß über seine bislang gegenüber den Serben erhobenen Forderungen nach mehr Land in Ost- und in Nordwestbosnien nach der Unterzeichnung in Sarajevo in bilateralen Arbeitsgruppen weiterverhandelt wird. Eine entsprechende Vereinbarung bezüglich seiner Forderung nach einem Landzugang zur Adria sowie nach dem Küstenort Neum hatte Izetbegović bereits am Dienstag in Genf mit dem kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman getroffen. In der gestrigen Vereinbarung mit Krajisnik stimmte der bosnische Präsident zudem erstmals einer „Auflösung“ der „Union dreier bosnischer Teilrepubliken“ zu, die in dem von den beiden Vermittlern David Owen und Thorvald Stoltenberg Ende August vorgelegten Bosnien-Abkommen vorgesehen ist. Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens kann Karadžić seine serbische Teilrepublik an Serbien angliedern. Der als Führer der bosnischen Kroaten auftretende Westherzegowiner Mate Boban hat ebenfalls das Recht, „seine“ künftige bosnische Teilrepublik mit der Hauptstadt Mostar an Kroatien anzugliedern, obwohl die Vereinbarung zwischen Izetbegović und Tudjman vom Dienstag keine entsprechende Passage enthält. Im Falle einer Auflösung der bosnischen Union sollen laut der Vereinbarung zwischen Izetbegović und dem Serben Krajisnik alle internationalen Rechte – das heißt vor allem die Mitgliedschaft in der UNO und internationalen Organisationen – auf die bosnisch-muslimische Teilrepublik übergehen, die damit zum eigenständigen, unabhängigen Staat würde. In einem in der taz Anfang August veröffentlichten Interview hatte Izetbegović bereits angedeutet, daß er letztlich gezwungen werden könnte, einer derartigen „Lösung“ zuzustimmen. Mitglieder seiner Delegation erklärten gestern gegenüber der taz, bei seinen Gesprächen mit US- Präsident Clinton und im UNO-Sicherheitsrat in der letzten Woche habe Izetbegović erkannt, daß es für seine Vorbedingungen zur Unterzeichnung eines Bosnien-Abkommens trotz zahlreicher öffentlicher Solidaritätserklärungen aus westlichen Hauptstädten „keinerlei Unterstützung mehr gegeben habe“. Daraufhin wurden in informellen Kontakten mit der serbischen und der kroatischen Seite die Voraussetzungen für die beiden Genfer Vereinbarungen mit Tudjman und mit Krajisnik geschaffen. In Bosnien-Herzegowina, vor allem in Mostar, wird weiterhin gekämpft. Andreas Zumach Seite 2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen