Der Erbe Adenauers

■ Das neue Interview-Buch mit Heiner Geißler: Eloquente Warnungen des entmachteten, doch nicht ohnmächtigen Rebellen an seine Partei

„Ohne Pazifismus kein Auschwitz. Friedensbewegung gleich Gesinnungspazifismus“: Heiner Geißler verteidigt im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger seine grobe Vereinfachung aus den 80ern. Der begnadete Techniker der politischen Sprache hält an der prekären Analogie: Chamberlain und Hitler – Friedensbewegung und Breschnew fest. Das war es, was Willy Brandt, Peter Glotz oder Antje Vollmer so wütend gemacht hatte: „Die Methode Geißler“.

Aber er redet darüber: offen, überzeugt. Solche Analogien entsprechen seinem moralisch-ethischen Koordinatensystem: Freiheit gegen Totalitarismus und Gleichheit, Solidarität aus einem christlich-humanistischen Menschenbild, das der 63jährige in der Auseinandersetzung seiner Familie mit dem Nationalsozialismus gewann. Eine kurze, fast ganz am Ende des Gesprächsbandes eingestreute Anekdote klärt uns darüber auf: Kajetan und er „waren fast unzertrennlich bei unserem täglichen Spiel im Binsendickicht und in Sandlöchern des Schussentales“ – und Kajetan verschwand plötzlich, 1938: Er „war ein Zigeuner, man sagte damals noch nicht Sinti und Roma ...“

Was die beiden Journalisten vorsichtig, aber beharrlich (nach ihrem Buch mit Richard von Weizsäcker) erneut leisten, ist das Porträt einer Ausnahmeerscheinung in der politischen und öffentlichen Landschaft Deutschlands: eines sozial und menschenrechtlich engagierten, von seiner Partei entmachteten, ungehindert einflußreichen Christen in der Christlich- Demokratischen Union Deutschlands. Mit seiner Deutung der unvollendeten Revolution von 1989 legt er noch einmal die Perspektive der Bürgerrechtsaktiven, der Schorlemmer und Ullmann, frei: Freiheit und soziale Gerechtigkeit gegen die Mobilisierung des Nationalen. Er berichtet, wie er anders als Dregger den vom Konrad-Adenauer-Haus im Dezember 1989 produzierten Aufkleber „Wir sind ein Volk“ als zu national kritisierte. Er geißelt die ideologiefixierte Ordnungspolitik der Wirtschaftsliberalen der FDP und Theo Waigels. Ihn packt „der heilige Zorn“, wenn er an die Fehler und Versäumnisse neoliberalen Marktfetischismus denkt. Die Menschen vor allem in Ostdeutschland seien an einer vernünftigen Politik von mehr Freiheit und sozialer Gerechtigkeit interessiert – und nicht an einem wohlfeilen Kampf ums Nationale. Es ist das zentrale Leitmotiv, das den Gesprächstext durchzieht: die Warnung vor dem Aufkommen von Neonationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, dem Ruck nach rechts auch und gerade in „seiner“ Partei.

Wäre er nicht ein intimer Kenner seiner Partei, man würde versucht sein, ihn eine Kassandra zu nennen. Nicht von irgendeinem antirassistischen Bündnis, sondern von seiner eigenen Partei verlangt er den Mut zum öffentlichen Kampf „gegen eine neue nationalistische Front von Augstein über einzelne Herausgeber der FAZ bis zu Gauweiler und den Republikanern, um eine der großen Visionen der Christlich-Demokratischen Union seit Konrad Adenauer durchzusetzen, nämlich die ,Vereinigten Staaten von Europa‘“. (Inzwischen teilt sein Parteichef – gewiß vor allem aus wahltaktischen Gründen – die Sorgen Geißlers.)

Es sind die nach dem Berliner CDU-Parteitag erst recht akuten Warnungen eines Mannes, der Deutschland, vor allem aber seine Partei in einen Wahlkampf der Angstmobilisierung laufen sieht: Wie beim Asylthema, so könnten nun beim Thema „Innere Sicherheit“ Ängste geschürt werden, die zu beheben es dann an Reichweite und Kompetenz mangelt: ein irrationales Vorgehen, das die Ängste um so eher hervortreibt und die Bürger um die Lösungen bringt, um die es in erster Linie geht: ökonomische und soziale.

Heiner Geißler weiß, daß ein solcher Kurs der harten Themen das Ende der Reagan/Bush-Ära entscheidend mitbewirkt hat. Er sieht, daß die neue SPD-Parteiführung – darin nicht unähnlich der Clintonschen Wahlstrategie – die Mitte zu besetzen und damit die CDU als Rechte zu plazieren sucht. Heiner Geißler ist da immer auch Parteimann. Aber mehr noch ist der von Kohl Entmachtete kluger Rebell von hohem Einfluß – gerade unter jüngeren CDU-Wählern wie Abgeordneten.

Von dem Leitmotiv, die CDU der sozialen, humanen, konservativen Mitte zu retten, ist die breite Palette der in diesem voluminösen Gesprächsband abgehandelten Themen gefärbt: die Verfallsgeschichte der deutschen Nation seit Ende des 19. Jahrhunderts, der Nord-Süd-Konflikt, die Tatsache Deutschlands als eines multikulturellen Einwanderungslandes, die Verbindung von Ökologie und Ökonomie – und das andere zentrale Leitmotiv: das moralische und menschliche Versagen Europas in Bosnien.

Das Buch gehört zum „Brevier“ der CDU ebenso wie auf die Arbeitstische der Opposition und intellektueller Trendsetter von Schwabing bis Berlin. Hajo Funke

„Heiner Geißler im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger“. Eichborn-Verlag, Frankfurt/M. 1993, 34 DM