Ein aufmüpfig' Liedchen dem Despoten

■ Erlesenes Operndesign im Theater am Goetheplatz: „Rigoletto“ eröffnet die Musiktheatersaison & spendet sogleich Glücksgefühle

Daß man skrupellosen Despoten und ihren Paladinen nicht ungestraft ein affirmatives Liedchen trällern darf, ist für uns Heutige nichts Neues mehr. Anschauungsmaterial aus jüngster und jüngerer Geschichte gibt es zuhauf. Auch früher wußte man es, glaubte es aber nicht immer. Victor Hugo schrieb darum ein wunderschönes bizarr-düsteres Schauerstück um den unglücklichen Hofnarren Franz des I. von Frankreich. Giuseppe Verdi, der ein aufmüpfiges Liedchen zu singen beabsichtige, machte unter Mithilfe seines Librettisten Peave eine Oper daraus: sein erster Welterfolg.

Des Herzogs Lied vom trügerischen Frauenherzen gelangte schon 1851 in die Hit-Parade, Gildas große Arie im ersten Akt gehörte in den 60er Jahren rockig aufgemotzt zu den Top Ten im deutschen Norden. Der Zensurbehörde der österreichischen Besatzungsmacht blieb anno dunnemals der zeitkritische Zug trotz der schönen Töne nicht verborgen. Sie bestand immerhin darauf, daß der größte Schurke des Dramas nicht König, und schon gar nicht mit dem Namen Franz, sondern nur Herzog sein durfte. Mit diesem Herz und Hirn gleichermaßen bedienenden Bravourstück eröffnete das zwischenzeitlich mit neuem Anstrich versehene Theater am Goetheplatz die Musiktheatersaison 93/94.

Zu hören war Herzerwärmendes. Mihai Zamfir vergoß, nachdem er den anfänglichen, jahreszeitbedingten Kloß im Halse überwunden hatte, gleißendes tenorales Gold, so süß und schön, daß des Herzogs so bösartig heuchlerischer Charakter Gruseln machte. Audrey Luna als verführte Unschuld sang so zart und rein, daß man auf die Bühne eilen wollte, um sie vor drohendem Unbill zu schützen. Nikolai Miassojedov lieh dem hart bestraften Rigoletto seinen klangschönen, aber etwas zurückhaltenden Bariton und legte so die menschlichen Seiten seines zwiespältigen, schwarzen Charakters offen. Der von Theo Wiedebusch blendend eingesetzte Männerchor verbreitete als Hofgesindel mit Präzision und Schärfe Schrecken und Schauder. Begleitet vom mit kammermusikalischer Zartheit bishin zur tumtultarischen Eruption aufspielenden, von Istvan Denes klug disponierten Philharmonischen Staatsorchester, verbreitete das Ensemble Freude. Glücksgefühle über einen gelungenen Musikabend konnten so nicht ausbleiben.

Daß man ihn am besten mit geschlossenen Augen genießen sollte, kann man allerdings nicht sagen. Im Eingangs- und Schlußbild konnte man über Mantuas nächtliche Silhouette — offenbar am Canale Grande gelegen — staunen, vor der sich schattenrißartig die Protagonisten bewegten. Dazwischen gab es eine schlichte, aber mit erlesenem Rot ausgeschlagene Bühne im Hintergrund, deren Vorhang wechselnde Perspektiven öffnen konnte.

Befand man sich in Mantua, im Teatro la Fenice in Venedig, oder gar, woran die Spelunkenszene denken ließ, in New York? Egal wo, es war schon eindrucksvoll mit seiner erlesenen Einfachheit und es war brillant ausgeleuchtet, von kleinen Pannen abgesehen.

In diesen durch Wolf Münzner vielfältig nutzbar gemachten Bühnenraum stellte Thomas Schulte-Michels seine Inszenierung, die den Zuschauer allerdings ratlos zurückläßt. Wir bekommen eine Fülle schöner Details zu sehen: Gildas hitparadenträchtiger Gesang an den unbekannten Geliebten gemahnt durch sein Ambiente an einen Sterbegesang auf der Totenbahre; eindrucksvoll die großen Männerchorszenen in ihrer Aggressivität; anrührend auch der Zwiegesang des Hofnarren mit seiner Tochter. Zuweilen erfreuten dezente Ironisierungen der „Großen Oper“ das Herz. Unklar bleibt allerdings, warum durch die Kostümierung die Nähe zur „Fledermaus“ gesucht wurde.

Zuviel wird inszenatorisch verschenkt. Rigoletto als zentraler Charakter blaß und lebt allein vom schönen Gesang. Seine unterschiedlichen Gesichter, das des sich anbiedernden Zynikers, das des kleinbürgerlichen Biedermanns, das des enthemmten Rächers und das des Tölpels — sie verschwimmen konturlos ineinander. Auch das vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Herzog, Hofgesellschaft und Narr bleibt unbearbeitet. Das Angebot des Bühnenbildes — Theater im Theater — hätte strukturbestimmend sein können, wurde allerdings eher zufällig genutzt.

Die aus Verdis gezirkelten Ensembleszenen in ihrer der Operntradition verhafteten Form springende Dramatik, die Reibung dieser Musik zum szenischen Geschehen und die daraus resultierende Spannung bleiben zu oft uneingelöst. Mehr Operndesign als Musiktheaterregie. Dieser Rigoletto läßt sich durchaus sehen, erhellt aber trotz seines Glanzes nichts. Es wird nichts haften bleiben. Mario Nitsche