piwik no script img

■ Nach dem „final showdown“ in MoskauDer träge Diktator

Jelzin ist der verkörperte Ausnahmezustand; bei akuten Krisen läuft er zur Hochform auf. In ruhigeren Zeiten wirkt er hingegen oftmals passiv und hilflos; bis er kurz vor der Niederlage einen neuen Befreiungsschlag gegen seine Peiniger führt. Nachdem sich nun sogar die Staatsbank auf seine Seite geschlagen hat, läßt sich erwarten, daß er auch diesmal Erfolg hat. Opportunisten helfen jenen zu siegen, deren Sieg sie erwarten.

Ein legitimer Staatsstreich

Diesmal hat Jelzin nach der ungeteilten Macht gegriffen. Zumindest bis zu den Neuwahlen hat Rußland wieder einen Diktator. Sein Staatsstreich ist durch keinen Verfassungsparagraphen abgesichert. Aber das ist bei Staatsstreichen immer der Fall. Wie alle, die so nach der Macht greifen, beansprucht Jelzin eine höhere Legitimität. Die Begründungen für sie sind seit drei Jahren bekannt und nicht völlig falsch. Erstens sei Jelzin in freien und gleichen Wahlen zum Präsidenten Rußlands gewählt worden; er herrsche daher mit größerem Recht als der Oberste Sowjet, der noch zu sowjetischer Zeit entstanden war. Zweitens hat Jelzin andere Trümpfe: Er ist gegenwärtig der mächtigste institutionelle Garant eines radikalen wirtschaftlichen Umbaus. Und schließlich erscheint das Parlament selbst, das den Präsidenten stürzen wollte und selbst gestürzt wurde, immer wieder als ein triftiges Argument für die Diktatur.

Denn dieses Parlament wird von Jelzin-Gegnern beherrscht – nur sechs Deputierte stimmten jetzt gegen seine Absetzung. Die Majorität tritt für einen administrativ geordneten Wandel ein; die alten Direktoren und die Provinzherren sind ein Machtfaktor. Die meisten in dieser strukturkonservativen Majorität sehnen sich nach der Sowjetunion oder gar Großrußland zurück. Schließlich gibt es viele Altstalinisten und viele mit ihnen verbündete Deputierte, die der extremen nationalistischen Rechten zugehören. Ein Sieg des Parlamentes könnte daher die verschiedensten Katastrophen auslösen, bis hin zum Krieg gegen ehemalige Sowjetrepubliken.

Wenn die Legalität des Parlaments – mit einigen Fragezeichen – unbestreitbar war, so galt seine Legitimität als zweifelhaft. 1990, als es gewählt wurde, war der Wahlmodus teils noch der sowjetische, teils bereits der heutige gewesen: Manche Kandidaten wurden noch von oben her bestimmt, und dann ohne Alternative angekreuzt; bei anderen gab es bereits die Möglichkeit, unter mehreren Bewerbern, die in Wahlversammlungen unterschiedlicher Heftigkeit nominiert waren, auszusuchen. Aber da es keine Parteien gab, wurden dann jene Persönlichkeiten gewählt – oder nicht gewählt –, die man aus den Medien kannte oder die sich sonst irgendwie bemerkbar machten. Ansonsten waltete der Zufall. Kein Wunder, daß nach den Wahlen niemand wußte, wie der Kongreß der Volksdeputierten und der Oberste Sowjet politisch eigentlich zusammengesetzt waren.

Schließlich zeigte sich, daß das russische Parlament konservativer war, als sowjetische Demokraten und westliche Beobachter erhofft hatten. Immerhin aber war es dieser Oberste Sowjet, der Jelzin mit knapper Mehrheit ins Amt holte und im August 1991 gegen den Belagerungsring der Putschisten aufhielt. Nicht das ganze Parlament bestand aus bärbeißigen Stalinisten. Als Vorsitzender des russischen Obersten Sowjet hatte sich Jelzin 1990 mit einer großen Machtfülle ausstatten lassen, die er gegen Gorbatschow ins Feld führen konnte. Allerdings kam diese Machtfülle auch seinem Nachfolger in diesem Amt, Chasbulatow, zugute, nachdem Jelzin im Frühjahr 1991 direkt zum Präsidenten gewählt worden war. Er hatte zwar auch sein neues Amt mit üppigen Befugnissen ausstatten lassen, aber vergessen, sein altes Amt des Parlamentspräsidenten wieder auf zivile Dimensionen zurückzuschneiden. So wurde Chasbulatow zu einem wichtigen politischen Akteur in Moskau. Bei seiner Machtfülle wäre der Sturz des Präsidenten jedem als verlockende Möglichkeit erschienen. Andere institutionelle Fehlkonstruktionen verschärften den Konflikt.

Zum sowjetischen Erbe gehörte die unsinnige Aufteilung zwischen einem Kongreß der Volksdeputierten, einem Obersten Sowjet und einem Präsidium des Obersten Sowjet. Zu diesem Erbe gehörte auch das Fehlen jeder Gewaltenteilung. Da alle Macht beim Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU konzentriert war, war sie auch überflüssig.

Ein Problem tauchte erst unter den neuen hoffnungsfrohen Verhältnissen auf. Nun pfuschte die Exekutive der Legislative mit Dekreten ins Handwerk, und die Legislative versuchte, die Exekutive zu gängeln. Präsident und Parlament kämpften zunehmend erbittert um die ganze Macht. Alle Beteiligten schufen, beseitigten oder ignorierten Gesetze und Institutionen nach Belieben und Machtlage. Der Staatsstreich heizt dieses Spiel auf die Spitze: Der Herr des Ausnahmezustandes ist an die Gesetze nicht gebunden, er macht sie.

Die Hoffnung, daß Jelzin eine Art demokratischer Diktator werde, ist damit ein Indiz für politischen Optimismus. Des Präsidenten instrumentelles Verhältnis zu den staatlichen Institutionen hatte sich schließlich schon in den Jahren vor dem Staatsstreich gezeigt. Er war es, der den Verfassungsrat schaffen und seinen Vorsitzenden Sorkin berufen ließ. Daß sich Sorkin für die Einhaltung der Verfassung einsetzte, machte ihn dann zum Feind Jelzins. Aber was soll der Vorsitzende eines Verfassungsgerichtes anderes tun, als auf die Einhaltung der bestehenden Verfassung zu achten? Hingegen war es Jelzin klar, daß die trotz aller Veränderungen noch gültige Verfassung illegitim blieb, weil sie in der Zeit Breschnews in Kraft getreten war. Ihre Verteidiger meinten zwar, daß die alte Verfassung inzwischen so verändert worden sei, daß sie trotz ihrer Unvollkommenheit brauchbare Grundlage für ein demokratisches Staatswesen sein könne. Aber gerade das zeigte ihren Gegnern, wie sehr sie sich an das Alte klammerten. Revolutionäre Veränderungen können schließlich nicht auf juristischem Stückwerk aufbauen. Der Hauptgrund für Jelzins Ärger aber war weniger mangelnde Legitimität der Verfassung als die Unbotmäßigkeit seiner Gegner.

Happy-End?

Der jetzige Staatsstreich folgt jener verzweifelten Logik, mit der die meisten Diktaturen begründet werden: Die politische und wirtschaftliche Unordnung und die aus ihr erwachsenden Leiden seien so groß, daß es einer starken, ordnenden und neuschaffenden Herrschaft bedürfe. Paradoxerweise hoffen gerade die Demokraten auf den Diktator Jelzin. Sollte Jelzin eine neue Verfassung ausarbeiten, dann gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder, sie wäre wirklich demokratisch; dann könnte niemand eine menschenfreundlichere Zusammensetzung des Parlamentes garantieren. Oder die Verfassung wäre auf Jelzin zugeschneidert. Das wäre noch riskanter. Denn Jelzin ist sichtbar krank. Wer nach ihm übermächtiger Präsident wird, ist noch unklar.

Zwei Faktoren werden wahrscheinlich alle pessimistischen Auguren beschämen. Erstens ist das russische Staatswesen so weit zerrüttet, daß Diktatur hin, Präsident her, die Regierung in Moskau ohnehin wenig zählt. Und zweitens wird Jelzin wieder weicher, sobald die Krise vorbei ist. Erhard Stölting

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen