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Wilde Streiks und Blockaden an der Ruhr

Der Protest der Bergleute hält an / Belegschaftsversammlung mit 2.000 Kumpeln auf der Zeche Hugo in Gelsenkirchen mit harten Worten gegen die eigene Gewerkschaft  ■ Aus Gelsenkirchen Walter Jakobs

„Wenn der Vorstand nicht in der Lage ist, der Bundesregierung richtig in den Arsch zu treten, dann muß das die Belegschaft eben machen.“ Mit diesen Worten meldete sich gestern während der Belegschaftsversammlung auf der Gelsenkirchener Zeche Hugo ein Bergmann zu Wort – und erntete Riesenapplaus. Aber es waren nicht nur die Bundesregierung und der Ruhrkohlevorstand, die gestern ihr Fett abbekamen, auch die eigene Organisation, die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE), bezog verbale Prügel der rund 2.000 Kumpel. Diese Kritik wohl ahnend, war die sonst immer als Transmissionsriemen so gern gesehene und genutzte Presse erst gar nicht zum Ort des Geschehens vorgelassen worden. Es bedurfte schon einiger Umwege, um Zeuge dieser emotional aufgeladenen Versammlung zu werden.

„Ihr da oben redet so, als hättet ihr keine anderen Sorgen, als die Kumpel von der Straße zu bekommen“, rief einer erregt unter dem donnernden Applaus der anwesenden Bergleute in Richtung Podium. Ein anderer Kollege, extra vom Niederrhein angereist, beschrieb die Situation so: „Die Regierung in Bonn hat noch nie so gewackelt wie heute. Und dann sollen wir schon wieder eine Pause einlegen? Wo wir doch gerade erst angefangen haben, das Heft in die Hand zu nehmen?“ Nein, von der Aufforderung des Betriebsrates und der IGBE, jetzt wieder an die Arbeit zu gehen, halten die meisten nicht viel. Auch die Warnungen von Vorstandsmitgliedern, es jetzt „nicht zu übertreiben“, weil die Stimmung sich sonst gegen die Protestierenden wenden könnte, nach dem Motto, „jetzt zahlen wir schon die Subventionen und dann sperren die uns auch noch stundenlang die Straßen“, wird mit Gelächter quittiert. Insgeheim kam der wilde Protest den Kohlemanagern ebenso wie der IGBE-Führung in den letzten Tagen ganz recht. Sorgte er doch dafür, daß der Druck auf die Bonner Regierungskoalition, jetzt eine Lösung zur Finanzierung der bei der Kohlerunde 1991 zugesicherten Fördermengen herbeizuführen, erheblich zugenommen hat. Bundeswirtschaftsminister Rexrodt steht bei den Bergleuten im Wort. Bricht er es, dann düfte im Revier noch einiges mehr abgehen als in den letzten zwei Tagen und Nächten.

Zwar sind die Bergleute der Berkamener Zeche, die zu den aktivsten und radikalsten der Branche gehören, gestern wieder eingefahren, doch das könnte sich schnell wieder ändern. Die Politik der IGBE verliert jedenfalls zunehmend an Bindungskraft. „Wo ward ihr in der vergangenen Nacht?“ fragten gestern immer wieder erregte Kumpel ihre Gewerkschaftsfunktionäre, die verzweifelt dafür warben, jetzt „zusammenzustehen“ und „keinen Keil zwischen uns treiben zu lassen“. Ein IGBE-Bezirkssekretär wörtlich: „Glaubt doch nicht, daß ihr mehr erreicht ohne uns.“ Die Kritik ging so weit, daß selbst der Direktor der Zeche Hugo sich berufen fühlte, den Gewerkschaftern beizuspringen: „Ich kann nicht verstehen, wie hier die IGBE behandelt wird.“

Der Ruhrkohlevorstand hatte während der Belegschaftsversammlung zuvor klargemacht, daß beim jetzt bis zur Jahreswende geplanten Arbeitsplatzabbau erstmals in der Geschichte der Ruhrkohle eine sozialverträgliche Lösung nicht mehr garantiert werden könne. Durch Verlegungen und Frühverrentungen sind die 6.000 bedrohten Jobs nicht aufzufangen. Man sei bemüht, Umschulungsmaßnahmen für alle anderen zu entwickeln – aber ohne Garantie. Inzwischen haben sich 600 junge Bergleute – nach Angaben des Vorstands – zur Umschulung entschlossen. Viele haben aber Angst vor diesem Schritt. „Ich bin mit 16 zum Bergbau gekommen und war 20 Jahre nicht mehr in der Schule, ich schaff' das nicht“, befürchtete gestern ein Hauer: „Mit bleibt dann nur noch der Strick.“

Streik im Saarland

Saarbrücken (taz) – Im Saarland haben gestern zehntausend Bergarbeiter mit Streiks und Straßensperren für sichere Arbeitsplätze demonstriert. Sie verlangten damit die Einhaltung des Bonner Kohlekompromisses vom November 1991. Dabei hatten sich Bund, Revierländer, Unternehmen und Gewerkschaften für die fünf saarländischen Zechen bereits auf den Abbau von weiteren 4.500 Arbeitsplätzen bis 1995 geeinigt. Dies allein bedeutet einen Rückgang der Beschäftigten von jetzt noch 18.000 auf dann 14.000. Die IG Bergbau und Energie (IGBE) befürchtet nun den Verlust von mindestens 8.000 weiteren Jobs. Der saarländische IGBE-Berzirkschef Gerd Zibell zur taz: „Wenn es keine Anschlußregelung für den Jahrhundertvertrag gibt, ist hier sogar alles weg.“

Die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Bergbau ist im Saarland noch wesentlich größer als im Ruhrgebiet. Trotz enormer Arbeitsplatzverluste stellt der Bergbau an der Saar noch immer 16 Prozent aller Industriebeschäftigten. In Nordrhein-Westfalen sind es dagegen nur noch sechs Prozent. „Der Strukturwandel“, so Zibell, „ist hier an der Saar überhaupt noch nicht angelaufen.“ Die Aussichten auf Ersatzarbeitsplätze im Saarland sind düster. Die Arbeitslosenquote liegt landesweit bei 11,9 Prozent; in Saarbrücken und Völklingen hat sie mit 15,2 Prozent bereits das Niveau der fünf neuen Bundesländer erreicht. Allein in den letzten zwölf Monaten ist die Zahl der Arbeitslosen um 27 Prozent auf 51.000 gestiegen. Die meisten Jobs gingen durch den Konkurs der Saarstahl AG verloren.

Für die Beschäftigten im Saar- Bergbau geht es daher nach den Worten von IGBE-Chef Gerd Zibell „um alles oder nichts“. Die Möglichkeiten, Entlassungen über vorgezogenen Ruhestand sozial abzufedern, sind gering: Das Durchschnittsalter der Bergleute an der Saar liegt bei 33 Jahren. Frank Thewes

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