: In Moskau blieb es beim Papierkrieg
■ Präsidentschaftswahlen am 12. Juni / Parlamentarier harren im Weißen Haus aus, doch die Front der Jelzin-Gegner bröckelt / Gerüchte über Sturm des Generalstabs und Verteidigungsministeriums
Moskau (taz) – Auf Moskaus Straßen und in den Provinzen Rußlands blieb es auch am zweiten Tag nach der Auflösung der Legislative durch Präsident Jelzin ruhig. Der Kampf zwischen Regierung und der rebellierenden reaktionären Opposition ist in eine Schlacht der Dekrete ausgeartet. Anordnungen des Präsidenten werden auf der Stelle aus dem „Weißen Haus“, dem Sitz des Parlamentes, von Generalmajor Alexander Ruzkoi widerrufen. Doch bleiben seine Gegendekrete ohne Folgen. Außer ein paar Demonstranten, die vor dem Parlament ausharren, konnten Ruzkoi und Parlamentspräsident Chasbulatow keine nennenswerte Gefolgschaft hinter sich sammeln. Obwohl Präsident Jelzin den Volksdeputiertenkongreß aufgelöst hatte, nahm dieser gestern seine Arbeit auf.
Wie bereits am Wochenende angekündigt, wird sich Präsident Jelzin vorgezogenen Neuwahlen stellen. Nach einem gestern veröffentlichten Erlaß sollen sie am 12. Juni, genau drei Jahre nach seiner ersten Wahl, stattfinden. Konkretisiert wurde dabei auch die Form der Parlamentswahlen. So soll die zukünftige „Staatsduma“ 400 Parlamentarier umfassen, 270 werden direkt in den Wahlkreisen, 130 über eine Liste gewählt werden.
Für Aufregung sorgte am frühen Donnerstagnachmittag eine Meldung der Moskauer Nachrichtenagentur ITAR-TASS, im Parlament reife die Vorbereitung eines bewaffneten Angriffs auf den Generalstab und das Verteidigungsministerium. Beide Einrichtungen liegen im Moskauer Stadtzentrum am Kalininprospekt, rund einen Kilometer vom Parlament entfernt. Den ganzen Nachmittag bleib es jeoch vor den Gebäuden ruhig. Nicht einmal die Wachen wurden hier verstärkt.
Wahrscheinlich handelt es sich um eine gezielte Falschmeldung, um die zähnefletschende Opposition noch mehr in Mißkredit zu bringen.
Derartige Gerüchte sind freilich nicht ganz aus der Luft gegriffen: Mehrfach hatte Ruzkoi vorgegeben, er stünde mit Militärs in Verbindung, Truppenteile würden sich auch auf Moskau zubewegen. Die Zahl der Soldaten in Moskau wuchs gestern tatsächlich. Doch diese Verstärkung war nicht von Ruzkoi, sondern vom Verteidigungsministerium angeordnet worden. Unklarheit herrschte auch über die Unterstützung durch die einzelnen Regionen Moskaus. Während Premierminister Tschernomyrdin mitteilte, daß die große Mehrheit der Provinzen auf der Seite des Präsidenten stünde, sahen die Jelzin-Gegner dies anders. Demnach hätten sich bereits 29 Regionalparlamente für Ruzkoi ausgesprochen.
Präsident Jelzin verfügte gestern, das Eigentum des Parlaments in die Kontrolle der Administration des Präsidenten zu überführen, einschließlich aller Valuta- und Rubelkonten. Zentralbankchef Geraschtschenko, ein eher wankelmütiger Kandidat und ehemaliger Günstling des Parlaments, schlug sich ebenfalls auf die Seite der Regierung, nachdem er anfangs von Neutralität gesprochen hatte.
Vizepremier Wladimir Schumeiko, den die Opposition mit angeblichen Korruptionsvorwürfen unter Beschuß genommen hatte, kehrte nach kurzzeitiger Suspendierung in sein Amt zurück. Er meinte gestern, man könne es den „Bewohnern“ des Weißen Hauses ruhig noch etwas ungemütlicher machen und die Wasser- und Stromversorgung unterbinden. Gegenüber der Zeitung Iswestija sagte Schumeiko, Betten und Maschinengewehre seien, soweit ihnen bekannt, ins Parlament transportiert worden. Sie erwarteten dort „wahrscheinlich einen Angriff“.
Jelzin und die Minister der Sicherheitsorgane und des Verteidigungsministeriums bekräftigten noch einmal, an einen Einsatz von Gewalt nicht zu denken. Die Lage im Lande sei ruhig, es bestünde kein Grund dafür. Allerdings sind die Truppen bei strategisch wichtigen Objekten verstärkt worden. Die Aussichten der Legislative, aus dem Machtkampf siegreich hervorzugehen, waren von Anfang an minimal. Mittlerweile bröckelt auch die Unterstützung ihrer ohnehin schmalen Anhängerschaft. Der Vorsitzende der Volkspartei freies Rußland, Lipitzky, die Ruzkoi gegründet hatte, distanzierte sich von den Aktionen und Äußerungen des Generalmajors: Sie seien die persönliche Meinung Ruzkois. Klaus-Helge Donath
Seiten 8 und 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen