Lustig war's, lang ist's her
Prozeß um den Tod des Mosambikaners Jorge Gomondai: Fragwürdige Alibis, widersprüchliche Zeugenaussagen, schlampige Protokolle / Gomondai soll aus der Bahn gesprungen sein ■ Aus Dresden Detlef Krell
Es war kurz nach vier Uhr morgens, Ostersonntag 1991. Am Platz der Einheit, der bald Albertplatz heißen sollte, mitten im Zentrum von Dresden, wartete ein Dutzend Jugendlicher auf die Straßenbahn. Die Bahn kam, Linie 7, zwei Triebwagen und ein Beiwagen. Nur zwei Männer stiegen aus. Sie gingen einige Schritte, zündeten sich eine Zigarette an. Die Jugendlichen verteilten sich beim Einsteigen auf zwei Türen des letzten Wagens. Sie sahen drinnen einen jungen Mann mit schwarzer Hautfarbe sitzen.
Die Bahn hielt, wie zu nachtschlafender Zeit üblich, nur ein paar Sekunden. Als Straßenbahnfahrerin Marietta R. im Rückspiegel sah, daß die Türen frei waren, drückte sie den Klingelknopf; alle Türen schlossen automatisch. Die Bahn fuhr an, mußte nach etwa fünfzehn Sekunden eine zweispurige, leere Straße überqueren. In dem Moment verlosch an der Armatur im Fahrerstand die Kontrollampe. Eine Tür mußte offen sein; die Fahrerin schaute in den Rückspiegel, sah, wie Leute aus der fahrenden Bahn sprangen. Das mußten die Jugendlichen von vorhin sein, die mit den Glatzen. Mehr Fahrgäste waren ja gar nicht drin. Sie ging auf die Bremse, die Bahn heulte auf und stand. Etwa 150 Meter hatte sie nach der Haltestelle zurückgelegt.
Nach Darstellung des Angeklagten Torsten R. (21) hat sich in dieser Zeit folgendes abgespielt: Als die Gruppe in den Wagen kam, stand „der Neger“ auf und gab einigen Leuten die Hand. Dann gab es „einen Tumult“, einige Jugendliche strichen dem Mosambikaner über den Kopf, andere stimmten „Urwaldgeheul“ an. Sie „drängten“ ihr Opfer in Richtung letzte Tür. Torstens Mitangeklagter Alexander W. verließ seinen Sitzplatz im vorderen Teil des Wagens, ging nach hinten und forderte die anderen auf: „Laßt den in Ruhe!“ Dann nahm er wieder Platz, vorn neben Torsten. Der drehte sich um und sah, über die rechte Schulter blickend, daß der Mosambikaner nun schon „halb draußen“ hing. Das nächste Bild: „Ich habe ihn ein ganzes Stück neben der fahrenden Bahn herrennen sehen. Dann ist er irgendwie gestolpert und gestürzt. Das Licht ging aus, die Bahn stand, alle Türen waren offen.“ Die Jugendlichen stürzten aus der Bahn, flohen geradewegs in die Wohnung von Andreas B., den die meisten zu kennen schienen.
Richter Lothar Kindl äugt mißtrauisch über seine Brillengläser hinweg in den winzigen Verhandlungssaal. Seine Fragen ätzen sich in die Gedankengänge der ZeugInnen, doch was er zu hören bekommt, will sich bisher nicht so recht zusammenfügen. Hält er ihnen hin und wieder einen Auszug aus früheren Vernehmungsprotokollen vor, bekommt er nur vage Antworten: „Ja, wenn ich das damals so gesagt habe ...“ Torsten R., der als einziger der drei Angeklagten zu einer Darstellung des Tatverlaufes bereit ist, hat sowieso schlechte Laune. „Ich weiß nicht, was das hier soll“, läßt er nach zwei Stunden Vernehmung wissen, „und warum Sie mich laufend fragen. Ich habe doch gesagt, daß ich mich nicht erinnern kann.“
Der Mosambikaner Jorge Gomondai blieb schwer verletzt auf der Fahrbahn liegen. Am 6. April 1991 starb er im Krankenhaus, ohne noch einmal das Bewußtsein erlangt zu haben. Es gibt keine Fotos, die dokumentieren, wie das Opfer auf der Straße lag. Matthias P., einer der beiden Männer, die mit Gomondai in der Linie 7 auf dem Platz der Einheit ankamen, erinnert sich, daß der Verletzte zwei Meter von den Schienen entfernt auf dem Rücken lag, den Kopf entgegen der Fahrtrichtung der Bahn.
Sein Begleiter Mathias M. rüttelt mit seiner Aussage noch mehr an der Version, daß Gomondai „in panischer Angst“ selbst aus der Bahn gesprungen sei. Während er sich die Zigarette angezündet hatte, hatte er zur Straßenbahn gesehen und dort „irgendein Handgemenge“ wahrgenommen. Auch daß der Mosambikaner „gestreichelt“ und geschlagen wurde, will er gesehen haben. Beide Männer standen 20 bis 30 Meter von der anfahrenden Bahn entfernt. Das nächste, was Mathias M. feststellte, war, daß „etwas herausfiel“. Da schoß es ihm durch den Kopf: „Die haben den Afrikaner rausgeschmissen!“
Richter Kindl hakt noch mal nach, und der Zeuge bestätigt: „Ein Körper fiel heraus. Wie ein nasser Sack.“ Hundertprozentig sicher wisse er, daß dieser Körper „nicht heraussprang, um auf die Füße zu kommen“. Und wenn jemand neben der Bahn hergelaufen wäre, dann hätte er das sehen müssen. Was er nicht sagt, aber jeder Dresdner weiß: Dort ist gar kein Platz zum Herausspringen und Weglaufen. Die Bahn passiert ein Absperrgeländer, danach kommt sofort die Straße, wo das Opfer lag.
Jetzt werden die Verteidiger aktiv. Wie sich der Körper denn von der Tür gelöst habe, will Frank Burgschulte wissen. Und der Herr Zeuge kam doch aus der Nachtbar ... „Wir waren lustig, aber nicht besoffen“, entgegnet Mathias M. unerschütterlich. „Ich habe außer der Straßenbahn nichts mehr wahrgenommen, nur, daß der Körper aus der Bahn fiel. Das ging alles sehr schnell.“
Die Verteidiger lassen sich Zahlen geben: Abstand von Schiene zu unterer Fensterkante, Körpergröße des Zeugen, Entfernung vom Zeugen zur Bahn. Sie skizzieren, rechnen. Der Befund: „Sie können gar nicht gesehen haben, daß dem Mosambikaner jemand über den Kopf gestrichen hat.“ Doch in der Eile hat sich ein logischer Fehler eingeschlichen. Der Sachverständige hilft aus: „Der Fußweg liegt 15 Zentimeter höher als die Schiene.“
Der altgediente Vorsitzende leuchtet in alle Winkel der eher dürftigen Aussagen. Mit den Akten, die er immer mal wieder mißmutig umwälzt, kann er noch weniger anfangen: Ein Protokoll ohne Unterschrift, ein anderes mit Wendungen, die nach Meinung der Verteidiger unmöglich „zum Wortschatz des Zeugen“ gehören können, unleserliche Namenszüge von Vernehmungsbeamten. Ein Zeuge spricht von einer Vernehmung, die in den Akten gar nicht auftaucht; dafür liegt dort ein Protokoll, an das sich wiederum der Zeuge nicht erinnern kann.
Bei Marietta R. sind die Ermittler nach der Tat angeblich ein und aus gegangen, doch es gab nicht eine einzige förmliche Vernehmung. Die wird nun nachgeholt. Den Vormittag im Gerichtssaal wird die Straßenbahnerin wohl nicht so schnell vergessen. Wieder und wieder muß sie erläutern, wie die Türen ihrer Straßenbahn bedient werden, ob sie die Straßenbahntür selbst wieder eingehängt habe oder der Kollege aus der Gegenbahn, wohin der Polizei-Lada gefahren sei, den sie unweit der Haltestelle registriert hatte, und woher sie die Vermutung nehme, daß die Polizisten ein Auge auf die Glatzengruppe hatten.
Anwalt Schille will detailliert wissen, wann wie viele Jugendliche auf welche Weise die Bahn verlassen haben. Die Zuhörer im Saal tuscheln: „Was hat das mit dem Fall zu tun?“ Zum Schluß hockt die junge Frau ausgequetscht wie eine Zitrone im Zeugenstand und wird zur Belohnung auch noch auf ihre Aussagen vereidigt.
Die Verteidigung besteht darauf. Wahrscheinlich will sie die Aussage sicherstellen, daß es selbst für die „zierliche Frau“ kein Problem sei, in der fahrenden Bahn ruckartig eine Tür zu öffnen. Viel mehr Rückhalt für die Tatdarstellung der Angeklagten geben nämlich die Zeugenaussagen nicht her. Doch auch für eine schlüssige Gegendarstellung reichen sie nicht.
Als aus der ominösen „Gruppe“ straßenbahnfahrender Skins endlich auch ein paar Gesichter vor dem Gericht auftauchen, erstarrt der Prozeß mehr und mehr zum Ritual. Der Tatverlauf ist mehr schlecht als recht geklärt, immer noch sind viele Varianten offen; mit den Angeklagten hat das bisher herzlich wenig zu tun. Die Zeugen wollen sich an nichts mehr erinnern, der Richter hält ihnen die Ermittlungsprotokolle vor, der Staatsanwalt forscht nach Details, und die Verteidiger lassen sich bestätigen, daß ihre Mandanten entweder gar nicht gesehen wurden oder am anderen Ende des Waggons brav auf ihrem Platz saßen. Rätselhaft bleibt der von den Zeugen übereinstimmend dargestellte „Tumult“ um den Mosambikaner. Jeder der kleinlauten Möchtegern- Skins hat den „Tumult“ wahrgenommen, aber aus der sicheren Entfernung eines Sitzplatzes, wenn möglich, am Fenster.
Nur Klaus R., ein Ex-Dresdner, der jetzt am Bodensee lebt, hat ein Wort des Bedauerns übrig, nämlich dafür, „daß wir nicht mitmachen konnten“. Die besten Prügelplätze waren halt schon weg, so mußte er sich mit seinem Kumpel „in ein Gespräch vertiefen“. Ein anderer Zeuge gibt eine Personenbeschreibung, die auf Torsten R. paßt. Der sei wegen seiner „stinkbürgerlichen Kleidung“ aufgefallen und auch gehänselt worden.
Doch dann versiegen die Erinnerungen. Gomondai will er noch „in der hinteren Tür eingeklemmt“ gesehen haben. Es könne aber auch sein, daß der Mosambikaner in dem Moment „schon herausgefallen“ war. Wie vor zweieinhalb Jahren gegenüber der Polizei sind sich alle potentiell Tatverdächtigen darin einig, daß „der Neger“ aus der Bahn fliehen wollte.
Die Flucht-Story bestätigt auch der unfreiwillige Gastgeber jener Nacht. Andreas B. vom Bodensee, wegen des Verdachts auf Totschlag in einem anderen Fall zur Zeit in Untersuchungshaft, wurde durch „wildes Klopfen an der Fensterscheibe“ geweckt. „Aufgeregt“ seien die nächtlichen Besucher gewesen, alle hätten „durcheinandergeredet“ von einem „Neger“, der „aus der Bahn gesprungen ist und sich nicht mehr bewegt hat“. Um ein Alibi sei es gegangen. Andreas B. wollte dann tatsächlich der Polizei zunächst weismachen, die Tatverdächtigen seien die ganze Nacht bei ihm gewesen.
Susanne L., damals B.s Freundin, spielt das kleine Dummchen. Sie habe nur mitbekommen, wie der Angeklagte Alexander W. „wild ans Fenster klopfte“. Mehr nicht. Nein, über „den Vorfall“ ist nie gesprochen worden. Richter und Staatsanwalt halten der Erzieherin und angehenden Abiturientin vor, daß sie ihr so viel Einfalt nicht ganz abnehmen. „Das war nicht irgendein, sondern ein äußerst markantes Wochenende“, hilft Kindl nach. Es hilft nichts. „Würden Sie die damalige rechtsradikale Szene als gewaltbereit einschätzen?“ will er wissen. „Nein“, kommt die einzige klare Antwort.
Peter W., ein in Dresden stadtbekannter Rechtsradikaler, lag zur Tatzeit im Bett. Er war den ganzen Abend mit der Horde beisammen, mit ihm die Prominenz der „Kameradschaft Johannstadt“, die selbstverständlich ein loser Treff junger Freunde des Bieres und keine rechtsradikale Vereinigung war.
Während sich die drei Angeklagten sichtlich langweilen, ist die Verhandlung für ihre zehn, zwölf Freunde im Saal ein vergnügliches Erlebnis. Lang ist es her, worüber heute so ausführlich geredet wird. Über manchen Scherz von damals können sie noch lachen, der Mosambikaner ist längst vergessen.
Der Prozeß wird fortgesetzt.