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„Und das essen wir auch“

■ 99 Jahre Chemie in Bitterfeld: Ein Sanierungungspolitischer Offenbarungseid der Landesregierung / Verfrühter Festakt

Bitterfeld (taz) – Eigentlich ist es ein kleines Wunder, daß hier überhaupt noch etwas wächst. Aber rund um die Chemie AG in Bitterfeld bauen die Menschen in ihren Kleingärten nach wie vor Salat, Tomaten und anderes Gemüse an. „Und das essen wir auch“, versichert ein Kleingärtner trotzig über den Zaun hinweg. So, wie es in den vergangenen 100 Jahren wohl auch immer war.

Zum 100. Geburtstag der Chemie AG Bitterfeld reihte sich sogar Wirtschaftsminister Günter Rexrodt in die Reihe der Gratulanten ein. Und ließ sich gar nicht von der Tatsache stören, daß die Chemie AG eigentlich erst 99 Jahre alt ist.

Die erste bedeutende Anlage auf dem Gelände, eine Chlorkali- Elektrolyse, wurde 1894 errichtet. Das Gebäude steht heute noch, halbverfallen und grasüberwuchert.

Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die es in der Chemie AG noch gibt, finden es ebenso in Ordnung wie ihr Wirtschaftsminister, daß das Jubiläum schon in diesem Jahr gefeiert wird. „Wer weiß, ob es diesen Betrieb im nächsten Jahr noch gibt“, sagt einer. Für ihn ist die Zukunft ohnehin klar: Vorruhestand heißt es demnächst. Sein Sohn, so sagt er froh, hat Glück gehabt und einen Job in einer der kleinen Firmen gefunden, die sich im euphemistisch „Chemiepark“ genannten Gelände rund um die alte Dreckschleuder angesiedelt haben.

160 Betriebe sind es bislang, aber sie können bei weitem nicht die Arbeitsplätze bieten, die seit der Wende in der Chemie AG selbst abgebaut wurden.

Nicht abgebaut wurde dagegen die Umweltbelastung rund um die Dreckschleuder. Zwar ist selbst in Bitterfeld heute bisweilen wieder blauer Himmel zu sehen, aber der Boden und die Gewässer rund um die Chemie AG haben es nach wie vor in sich. „Seh'n wir uns nicht in dieser Welt, dann sehn wir uns in Bitterfeld“, flachsen die Neu-Bundesbürger der Ex-DDR bis heute. Und sind froh, nicht am Rande des Chemiebetriebes leben zu müssen.

Auch die meisten Festgäste, die gestern das Glas auf das verdreckte und verfrühte Jubiläum erhoben, störte es nicht, daß der eigentliche Festakt erst im nächsten Jahr fällig wäre. Schließlich ist die Zeitrechnung ohnehin zweifelhaft in disem Fall: Irgendwo im Dunkel der Geschichte und der Emissionen lagern schließlich noch weitere 1.000 Jahre, an die bei den Jubelreden nicht sonderlich intensiv erinnert wurde. Sprengstoff und Giftgas wurde zu Nazizeiten in Bitterfeld produziert, in der Zeit als die Chemie AG Tochterunternehmen des unrühmlichen IG Farben-Kartells war. Aber diese Zeit wurde beim Feiern eher unter den Tisch gekehrt. Ebenso wie der Dreck rund um die Chemie AG. Auf einer umweltpolitischen Konferenz in Bitterfeld leisteten Sachsen-Anhalts Umweltminister Wolfgang Rauls und Bitterfelder Kommunalpolitiker erst vor wenigen Monaten den sanierungspolitischen Offenbarungseid. Die Sanierung der Region Bitterfeld würde Milliarden kosten. Und die hat heutzutage weder der Magdeburger Umweltminister Rauls noch sein Bundeskollege Klaus Töpfer. Eberhard Löblich

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