: Unterm Strich
Am kommenden Samstag wird Oswald Kolle 65. Der dpa hat er aber verraten, daß er „noch lange nicht in Rente“ gehen will. „Sex ist immer aktuell“, so seine Einschätzung der Lage, vor allem seit der „Wiedervereinigung“. Für 1994 plant Kolle eine gesamtdeutsch ausgestrahlte neue Fernsehserie zur Sexualaufklärung. Dabei gehe es keineswegs darum, Ostdeutschland zu missionieren, im Gegenteil, „in der DDR war etwa die Gruppensexszene viel größer als in der Bundesrepublik“; Ostdeutsche könnten „viel offener und lockerer über Sex sprechen – ganz ohne Schuldkomplexe“. Dagegen hält Kolle es für erwiesen, daß seine Illustrierten-Serien, Bücher und Filme „bei vielen Westdeutschen Komplexe“ abgebaut haben. Im Grunde sei Kolle ein Fall für jede/n gewesen. Selbst sein calvinistischer Steuerberater, so Kolle, habe ihm, dem weltoffenen Sexualaufklärer, seine Tochter zum kollektiven Nacktbaden auf Sylt mit den hochdialektischen Worten anvertraut: „Herr Kolle lebt im Reich des Teufels, aber er ist doch ein netter Mensch.“
Christa Wolf stellte sich am Montagabend in Potsdam erstmals seit ihrer Rückkehr aus den US of A Fragen zu ihrer Stasi-Akte, die sie im vergangenen Januar, im Nachfeld der IM-„Sekretär“-Affaire um Heiner Müller, publik gemacht hatte. In der Galerie am Staudenhof sprach die Autorin von einer schweren Zeit in Santa Monica, in der auch eine „gewisse Gefahr“ bestanden habe „aufzugeben“. Wolf räumte ein, zu lange geschwiegen zu haben, doch habe sie „es“ nach den ersten Besuchen in der Gauck-Behörde „einfach nicht glauben wollen“. Ähnlich wie Müller, der die Spitzel-Akten als „Stasi-Literatur“ betrachtet, warnte sie davor, den Wahrheitsgehalt der Akten allzu hoch einzuschätzen: „Sie geben nur das Denken dieser Maschinerie wieder.“ DDR-Bürger sollten nach Wolfs Meinung heute weder nur das Schlechte an der Vergangenheit sehen noch in Nostalgie versinken und sich widerstandslos abwickeln lassen, „zum Untertunken gehören immer zwei.“
Gestern noch war's der CSU-Abgeordnete Norbert Geis, der Musik und Performance „der Dame“ Madonna „nicht für Kunst“ hält (und an der sittlichen Vertretbarkeit ihres Auftritts in Frankfurt zweifelt), heute fordert Bundesjugendministerin Angela Merkel eine Überprüfung der Freigabe von Spielbergs „Jurassic Park“ ab 12. Der Film könne selbst bei sensiblen 16jährigen „Angst und Schrecken“ auslösen. Merkel sprach sich auf der Jahrestagung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Weilburg/Hessen für eine strengere freiwillige Selbstkontrolle aus.
Derweil hat die Hollywoodisierung der Geschichte bereits diverse Programmpunkte des Berliner Meetings der Preisträger des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte (Thema: „Denkmal: Erinnerung –
Mahnung – Ärgernis) ergriffen. An rostigen Stahlkrampen stiegen die 40 Mädchen und Jungen „in strahlend-weißer Kleidung“ (dpa) ganz Indiana-Jones-mäßig 10 Meter tief in unterirdische Tunnelanlagen hinunter, bei denen es sich um den bereits realisierten Teil der Nazipläne für die „Reichshauptstadt Germania“ handelt. Bauexperten des Senats vermittelten den Jugendlichen anschließend in einer Lichtbildshow unter Tage eine Vorstellung von den architektonischen Hauptstadtplänen der Nazis. „Flackernde Kerzen, ein ,Teppich‘ bizarrer Musik und aufgestellte Dia-Projektoren mit Dokumententexten, Stadtplänen und -ansichten sollten historische Aura ausstrahlen“. Am Nachmittag schauten sich die Preisträger dann die Karl-Marx-(früher Stalin-)Allee an. Gestern abend schließlich trafen sie mit BP von Weizsäcker in dessen Berliner Amtssitz zusammen.
Trotzdem scheint es noch Momente zu geben, in denen Realismus gegen Inszenierung obsiegt. Bei Außenaufnahmen zu dem Metro-Goldwyn-Mayer-Film „Blown Away“ ist am Sonntag abend im Hafen von Boston mehr weggesprengt worden, als den Produzenten lieb war. Die für die Dreharbeiten inszenierte Explosion auf einem verrosteten Frachter versenkte nicht nur diesen, sie erschütterte auch die Hafenanlagen, ließ Fensterscheiben zu Bruch gehen, zerbröckelte Putz, riß einen Schornstein ein und setzte einige Dachstühle in Brand. Nach Angaben der Behörden wurde wundersamerweise niemand verletzt. Explodiert waren 15 Kilo Sprengstoff und 2.000 Liter Benzin. Die Produzenten versprachen, für den Schaden aufzukommen.
Zurück zur Gesellschaft des Spektakels: In Lille wurde die Inbetriebnahme des zwischen Lille und Paris verkehrenden Hochgeschwindigkeitszugs TGV mit einer musikalischen Uraufführung gefeiert. Komponiert hat der momentan an allen Fronten wirkende Michael „das Piano“ Nyman, genannt hat er sein Werk originellerweise „Hochgeschwindigkeitsmusik“. Unterdessen arbeiten sich in Chemnitz 19 Künstler an der programmatischen Frage „Entgleisung – Desaster oder Emanzipation“ ab. Im Reichsbahn- Betriebswerk der sächsischen Industriemetropole verpacken, bemalen und installieren sie an und in 14 Eisenbahnwaggons, die die Deutsche Reichsbahn zur Verfügung gestellt hat. Am Samstag soll der Zug bei einem Künstlerfest namens „Begegnungen 93“ im Städtel gezeigt werden, anschließend geht's auf große Fahrt durch Sachsen. Einige Wagen sind bereits fertig, so etwa der der Dresdner Künstler Prof. Günther Hornig und Dieter Weise. Eigenen Angaben zufolge stützt sich ihr Waggon, bei dem die Seiten und Stirnwände herausgerissen und durch bunte Holzteile ersetzt wurden, auf die Deutung des Wortes „Emanzipation“ im „Sinne von Erweiterung, Ausdehnung und Kommunikation“.
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