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„Seeblockade“ gegen Aufhebung von Tarifen

■ 50 Schiffe blockierten gestern die Havel / „Stärkste Krise seit Kriegsende“

Helge Gabriel schießen die Tränen in die Augen. Der 33jährige Kapitän guckt von der Brücke seines Schiffes „Konradshöhe“ auf die Havel an der Ruhlebener Straße in Spandau und kann kaum glauben, daß sein Schiff mitten zwischen 50 anderen Binnenfrachtern liegt, die gestern mittag für zwei Stunden die Wasserstraße blockierten. Gemeinsam mit den Blockaden auf Weser, Rhein und Elbe sei das der größte Protest, den die Binnenschiffahrt jemals auf die Beine gestellt habe.

Die symbolischen Blockaden wenden sich gegen ein bereits verabschiedetes Gesetz, mit dem die Tarife im innerdeutschen Schiffsverkehr ab Januar kommenden Jahres abgeschafft werden sollen. Dann werde ein rücksichtsloser Preiskrieg ausbrechen, „zwar müßte ich nicht sofort aufhören, aber ich würde es tun“, sagt Kapitän Gabriel. Er befürchtet, daß er ab kommendem Jahr für zwei Drittel des heutigen Verdienstes fahren muß. Deshalb hatte er zusammen mit 20 Schiffseignern das „Team unabhängiger Partikulierer“ gegründet, das in Berlin die Blockade initiiert hatte und der sich der Bundesverband der deutschen Binnenschiffahrt (BdB) und der Bundesverband der Selbständigen angeschlossen hatten.

Mit der Aufhebung der Tarife drohe der Binnenschiffahrt die „stärkste Krise seit Kriegsende“, sagte Partikulier Heinz Dürbaum gestern während der „Seeblockade“ vor der Presse. Ohne Tarife würden die finanziell Schwächeren „kalt wegsaniert“. Peter Eichler, Berliner Sprecher des BdB, betonte, daß der Bundestag dem Tarifaufhebungsgesetz unter falschen Voraussetzungen zugestimmt habe. Das Parlament habe angenommen, daß im Zuge des europäischen Binnenmarktes auch die anderen Länder ihre Tarifsysteme abschaffen und daß die bundesdeutsche Preisfestschreibung gegen EG-Recht verstoße. Aber zum einen blieben in den Konkurrenzländern Belgien, Niederlande und Frankreich die dortigen Tarifsysteme bis zu acht Jahren weiter bestehen. Zum anderen habe Brüssel inzwischen die Rechtmäßigkeit der deutschen Regelung bestätigt.

„Vielleicht kommen die Aktionen noch nicht zu spät“, sagte Eichler. Auch wenn die Reeder sich nicht mit den Abstimmungsverfahren in Bundesrat und Bundestag auskennen, hoffen sie, daß Ministerpräsidenten und Parlamentarier noch verhindern können, daß das Tarifaufhebungsgesetz in Kraft tritt. Wenn nicht, werden weitere Aktionen folgen, kündigte Kapitän Gabriel an, dessen Familie seit fünf Generationen ihr Geld auf dem Binnenschiff verdient. Gabriels 57jährige Mutter Christa, die ihr gesamtes Leben auf der „Konradshöhe“ verbracht hat: „Diesmal hat jeder gemerkt, wie ernst es ist.“ Dirk Wildt

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