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Das neue Bewußtsein

■ betr.: „Die neue Form der Täter entlastung“, taz vom 24.9.93

[...] Kompetent und klar wurde hier einmal über den Versuch berichtet, das neu aufgebrochene Bewußtsein über die Ursachen und Folgen der sexuellen Gewalt gegen Kinder in der Öffentlichkeit als „Hysterie“ und „Panikmache“ zu diskreditieren. Die äußerst mühevolle Arbeit von Selbsthilfegruppen und Einrichtungen wie „Wildwasser“, die wirkliche Kinderschutzarbeit leisten (und die sehr nötige Hilfe zum Aufarbeiten schlimmer Erfahrungen liefern), soll als eigennütziges, von Rach- und Gewinnsucht getriebenes Intrigantentum dargestellt werden. Frau Rutschky bietet nur das wüsteste Beispiel für die Verlogenheit, mit der hierzulande der Backlash gegen Menschen betrieben wird, die angefangen haben, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ganz im Gegensatz zu ihren Tätern, die oft lebenslang ihr Heil in der Verleugnung suchen.

Die selbsternannten Verteidiger der kindlichen Sexualität, die angeblich im Interesse derer sprechen, die sie zu Opfern machen, übersehen unvermeidlich, daß diese kindliche Sexualität andere Ausdrucksformen und Wege hat als die erwachsene, genau darin unterscheiden sich nämlich Kinder von Erwachsenen. Der sicherste Weg zu Verklemmtheit, Sexualfeindlichkeit und sexuellen Störungen liegt darin, diese andersgeartete kindliche Sexualität für erwachsene Interessen zu mißbrauchen, sei es durch sexuellen Mißbrauch, Kinderpornographie und was dergleichen Torturen mehr sind. Und Gitti Hentschel hat recht, wenn sie sagt, daß es bei all dem nicht um Sexualität, sondern um Gewalt und Macht geht, wie bei Vergewaltigungen, die Frauen von Männern, oder Männern von Männern (wie in Gefängnissen, beim Militär u.a.) angetan werden, auch.

Was in dem Artikel fehlt und bisher leider immer noch nicht genug bekannt ist, ist die Tatsache, daß sowohl Mädchen als auch Jungen Opfer sexueller Gewalt sind. Täter sind Männer und Frauen. Ich möchte mich nicht an den Spekulationen darüber beteiligen, wer und wie oft bei den Kindern das meiste Leid zu ertragen hat, ob der „brutal-männliche“ Mißbrauch oder der eher „weich-weibliche“ Mißbrauch die schwereren Schäden hervorruft, das sind mehr oder minder bloße Klischees, die sich entlang der Rollenverteilung bei den Geschlechtern verfestigen. Ich habe auch schon von Männern gehört, die als Jungen brutal von Frauen vergewaltigt wurden, und von Frauen, die als Mädchen Opfer der „sanften“ Onkeltour waren. Es kommt auch vor, daß ältere Kinder, meist selber Opfer, gegenüber schwächeren und jüngeren Kindern zu Tätern werden, auch wenn das sehr selten der Fall zu sein scheint. Der Glaube, daß „beinahe“ nur Mädchen Opfer sexueller Gewalt werden, folgt meiner Meinung nach einem patriarchalen Gedankenmuster, das es männlichen Opfern überhaupt verbietet, sich als solche zu begreifen, geschweige denn, darüber auch noch zu reden. Männer haben aktiv und führend zu sein, sogar um den Preis, daß sie sich lieber einbilden, sie seien als Jungen von einer „erfahrenen Frau in die Sexualität eingeführt worden“ und hätten es genossen, anstatt sich über die Herkunft und die Natur ihrer sexuellen Probleme Gedanken zu machen. Wer darüber wirklich etwas erfahren will, sollte „Victims no longer“ von Mike Lew lesen, der als einer der ersten in den USA ausgedehnte Erfahrungen mit männlichen Opfern sexuellen Mißbrauchs gemacht hat [...] M. Hammerschmidt

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