piwik no script img

Wenn die Mauern fallen

Die Chemie der Hollywood-Produktionen. Warum das Star System tendenziell gegen das „Kribbeln“ und für die fetischisierten Objekte arbeitet, und warum Gable und Colbert in „It Happened One Night“ sich nicht küssen durften  ■ Von Julie Phillips

In der klassischen Hollywood- Komödie „It Happened One Night“ sind Clark Gable und Claudette Colbert ein antagonistisches Paar nach der gängigen Hollywood-Formel: Der eine reich, der andere pleite, der eine zurückhaltend, der andere mitteilsam, der eine in sich gekehrt, der andere weltgewandt. Ist die Gegensätzlichkeit des Paars einmal manifest, muß es durch äußere Umstände zusammengeworfen werden. Im Fall von Frank Capras romantischer Komödie sind sie wegen einer Fahrzeugpanne – die beiden befinden sich auf einer Busreise – gezwungen, ein Hotelzimmer für die Nacht zu teilen. Der Schicklichkeit halber – und vielleicht auch als gezielter Verweis auf den neuen Sittenkodex der Kinoindustrie – hängt Gable zwischen ihre Betten einen Vorhang auf. Während sie sich in einer neckischen Sequenz entkleiden, sehen wir erst die eine und dann die andere Seite, bis sich die Kamera provokativ in ihrer Mitte aufpflanzt. Gable nennt den Vorhang die „Mauer von Jericho“: Sie existiert nicht nur zum Schutz, sondern letztlich auch, um zu fallen.

„It Happened One Night“ handelt, wie könnte es anders sein, davon, was in jener Nacht nicht geschah. Der Vorhang hätte fallen können, doch er fiel nicht, das Begehren wurde durch einen spröden verbalen Schlagabtausch überspielt, und die in der Luft liegende Offerte blieb unausgesprochen. So wie der Kriminalfilm oder Thriller das Unbekannte im Zentrum hat, so hat der Liebesfilm, die Romanze, die Textur des Ungewissen, des Unerreichbaren: Es geht um die unmögliche, vollendete sexuelle Begegnung, welche ein Glück wie im Märchen verspricht, und wenn sie nicht gestorben sind ... Indem sie mit der Idee des kompensierten Mangels spielt, umgibt sich die Romanze mit der ganzen Kraft und quälenden Zweideutigkeit des Begehrens, so daß sowohl die Lust als auch ihre Hinderungsgründe zum Ausdruck kommen. (...)

Sich beidseits der Mauer zu befinden heißt, am großen voyeuristischen Vergnügen des Kinos teilzuhaben, welches nicht darin besteht, zwei Menschen beim Beischlaf zuzuschauen, sondern zuzuschauen, wie diese sich mit dem Gedanken des Beischlafs tragen. Wenn es zwischen Akteur und Aktrice „funkt“, wenn es zwischen ihnen eine „Chemie“ gibt: Das ist der Raum, in dem das voyeuristische Vergnügen sich ausbreitet. Ein Film wird ja nicht sexy durch das Herzeigen von primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen oder durch einen sorgfältig simulierten Beischlaf, sondern allein durch das Aufzeigen der Verwundbarkeit und Sehnsüchte der Protagonisten, die dem Kinopublikum, das das Privileg hat, sowohl vor als auch hinter den Vorhang schauen zu dürfen, quasi heimlich enthüllt werden. Die Chemie zwischen zwei Schauspielern wirkt als eine Art „Äther“: Via ihrer erotischen Dynamik erhält das Publikum die Botschaft des Films. In einem gewissen Sinn repräsentiert die Dyade, das Liebes- oder Freundespaar im Film, die Beziehung zwischen dem Publikum und der Leinwand. Das Moment ihrer Annäherung spiegelt das Hineingezogenwerden des Zuschauers in diese Kinowelt, und die unerreichbare Vereinigung mit dem Objekt der Begierde stellt unser eigenes Unvermögen, in den Text einzutreten, dar. Die Hindernisse, die von Protagonisten zuletzt überwunden werden, stehen für die Distanz zwischen uns und der Leinwand, die Zynismen des Freundes- oder Liebespaares für unsere eigene Unfähigkeit zu glauben, und die Vertrautheit, die allmählich zwischen dem Paar entsteht, korrespondiert mit unserem eigenen Zutrauen, das wir für die Geschichte zu empfinden hoffen.

Die Chemie zwischen zwei Menschen kann sowohl freundschaftlicher wie romantischer Art sein. Humphrey Bogart und Lauren Bacall besaßen sie, aber auch die Marx Brothers, die im Variété- Sinn des Wortes eine „Nummer“ abzogen; Darsteller sie alle, die ihre gegenseitigen Stärken zu ergänzen gelernt hatten. Ein beträchtlicher Teil der Anziehungskraft von Popgruppen hat ebenfalls mit dieser manifest werdenden Intimität zu tun. Wenn man etwa Beatles-Filme anschaut oder sich ihre alten Songs anhört, gerät man unwillkürlich in den Bannkreis ihres lustvollen Miteinanders. Unter dem alten Studiosystem investierte Hollywood enorme Energie in die Suche nach solcher „chemischer Reaktion“. Stars, die zusammen funktionierten, wurden immer wieder paarweise eingesetzt, so daß zuletzt diese Star-Konstellation an sich fast schon zu einem Genre wurde. Hollywood entwickelte ein Repertoire von Clichés, welches als abgekürztes Verfahren zur gesuchten chemischen Reaktion dienen konnte: Augenpaare, die sich quer durch einen Raum treffen, indizieren etwa einen sich anbahnenden Kontakt. Auch die gesamte Technik des Schuß-Gegenschuß-Verfahrens mit ihrer Konzentration auf die gegenseitige Schauspieler- Reaktion war dazu angelegt, uns in dieses emotional-reaktive Geschehen einzubeziehen. Gegensätze – arm/reich, nervös/entspannt, zynisch/naiv – wurden geschaffen, um im Verlauf der Geschichte aufgehoben zu werden. Hindernisse wurden eingebaut; Beleidigungen wurden ausgetauscht, um wahre Liebe zu kaschieren. Man kann sich die gesamte kommerzielle Filmproduktion jener Zeit als ein einziges gut funktionierendes wissenschaftliches Untersuchungslabor vorstellen, als eine Einrichtung mit Reagenzgläsern, Glasröhren, Retortenbehältern, Stöpseln etc., aus welcher ganz zum Schluß erotische Essenz in kleine Phiolen tröpfelt. Preston Sturges' „Palm Beach Story“ kommentiert die im Grunde furchtbar konstruierte Geschichte gleich selber, indem er mit einer Hochzeitsszene beginnt, wobei über den Frischvermählten die Schrift erscheint: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute glücklich und zufrieden. Oder etwa doch nicht?“)

Doch Chemie zwischen Akteuren ist oft schwer in den Griff zu bekommen. Da sie so sehr von deren gegenseitiger Reaktion abhängt, ist sie schwer abzuschätzen und durchzuhalten. Barbara Stanwyck zum Beispiel spielte in „Double Indemnity“ souverän gegen Fred MacMurray an, doch in „The Lady Eva“ wirkt Henry Ford neben ihr wie ein Spazierstock. Das Star System arbeitet tendenziell gegen die Chemie, da es das Gewicht mehr auf Konsumation denn auf Partizipation seitens des Publikums legt und dessen Interesse auf einzelne fetischisierte Objekte und nicht so sehr auf das Umfeld, in welchem das Begehren stattfindet, lenkt. Möglicherweise ist die Chemie eine aussterbende Kunst. Chemie nämlich bedingt die Möglichkeit eines Happy-Ends – wie die US-amerikanische Werbekampagne für „Ghost“ kürzlich klarmachte, müssen wir daran „glauben“. Und da sich die Romanze, der Liebesfilm im Niedergang befindet – zu Recht von den Feministinnen diskreditiert und von der sexuellen Revolution abgeräumt –, hat sich die Produktion von kinematographischer Chemie auf das relativ unvergängliche Terrain des Buddy Films, des „Kumpel“-Films verlagert oder wurde in Filme wie „Ghost“, die sich selbst gewiß als Fantasy-Filme deklarieren, abgedrängt. Die gegenwärtige Popularität von Liebesfilmen, in denen Magie mitspielt, deutet auf den Versuch hin, den Unglauben des Publikums miteinzubeziehen oder gar aufzuheben. Eine weitere Konsequenz des obsolet gewordenen romantischen Liebesfilms ist die Verlagerung der Begierde vom sinnlichen Bereich auf den wirtschaftlichen. In „Pretty Woman“ symbolisiert der Vorhang nicht so sehr Anstand, sondern Geld; die Mauern von Jericho sind Richard Geres Kreditkarte.

Mit diesem neuen, konsumorientierten Programm einher geht die Präferenz von Versöhnung anstatt Widerstand, eine subtile Abkehr vom Ausloten von Spannungen hin zur propagierten Rückversicherung. Das klassische Hollywood-Beziehungsfeld, nämlich die Versöhnung der Gegensätze, beinhaltet den Unterschied wie auch die Verneinung des Unterschieds, je nachdem wohin man seinen Blick richtet. Während die Chemie zumindest eine Hoffnung auf Gegenseitigkeit, auf ein Spannungsfeld darstellte, so liegt Hollywoods aktuelles Interesse ganz in der dringlichen Förderung der Gleichheit, der Egalität. Wir sollen glauben, daß Geld die Menschen eher vereint als trennt, daß jeder Mangel durch frenetischen Konsum kompensiert werden kann. Denn ein jugendlicher Kinobesuch von „Teenage Mutant Ninja Turtles“ – der eine Chemie nicht unähnlich derjenigen der Beatles besitzt – bedeutet auch, die Eltern dazu zu bringen, einem das dazugehörige T-Shirt und die Gummipuppen zu kaufen, um durch diese Anschaffungen in die Welt der Zugehörigkeit mittels Erwerb aufgenommen zu werden. Eins sein mit dem Mitmenschen heißt eins sein mit dem Produkt und umgekehrt.

Selbstverständlich hat die Liebe im amerikanischen Kino stets quer durch alle sozialen Klassen stattgefunden, und sei es auch nur deshalb, weil Klassengegensatz einer der am einfachsten und unverfänglichsten darzustellenden Unterschiede ist. (Liebe zwischen den Rassen bleibt hingegen im Hollywoodfilm ein Tabu, auch wenn sie etwa zwischen männlichen Polizisten – siehe „Lethal Weapon“ 1 bis 3 – zunehmend erlaubt ist und vermutlich den Zweck hat, ein gemischtrassiges Publikum anzulocken. Auch homosexuelle Beziehungen tauchen am Leinwandhorizont auf, doch werden sie stets problematisiert oder thematisiert und lassen keine symbolische Verwendung zu.) In den dreißiger und den achtzigerJahren, den Jahrzehnten mit der auffälligsten Diskrepanz zwischen Arm und Reich, hat Hollywood die Chemie zur Verleugnung eben dieses Unterschieds benutzt. Filme wie „My

Fortsetzung auf Seite 16

Fortsetzung von Seite 15

Man Godfrey“ (1936) über einen zum Butler avancierenden Clochard und – nachdem er sich als gebildeter Mann in Verkleidung entpuppt hat – Ehemann oder „Trading Places“ (1983) über einen Penner, der aufgrund einer zynischen Wette zum Börsenmakler hochkatapultiert, indes der Börsenmakler zum Penner degradiert wird, vertreten alle das im Aussterben begriffene amerikanische Ideal der upward mobility, des Trends zum sozialen Aufstieg. In den vielen das „Trading Places“- Modell kopierenden Filmen wird stets impliziert, daß die unteren Klassen eine Offenheit, einen gesunden Menschenverstand und eine animalische Energie besitzen, welche sie, wenn man ihnen nur die Chance gibt, zu ausgezeichneten Geschäftsleuten prädestiniert. Die Reichen wiederum werden von den Armen humanisiert. Doch: Der Status quo wird nicht angetastet.

Eine weitere Folge des aussterbenden Liebesfilms war quasi eine Trotzreaktion darauf: die in den Vordergrund gerückten Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau. „Basic Instinct“ kann wohl als der definitive Anti-Chemiefilm betrachtet werden. Es existieren keinerlei Gefühlsbande zwischen den Protagonisten, und unser Gefühl für ihr emotionales Engagement ist gleich Null. Es gibt bei Michael Douglas als Polizisten keinerlei Anzeichen von Verwundbarkeit (obgleich im Plot der älteste Verletzlichkeitstrick angewandt wird, der von der verstorbenen Ehefrau). Wir wissen von ihm, daß er außergewöhnlich gewalttätig ist, aber wir wissen nicht warum. Für die beiden Kontrahentinnen Sharon Stone und Jeanne Tripplehorn existieren ebensowenig Beweggründe. Sie sind einfach verrückt, psychopathisch. Man vergleiche dies mit „Double Indemnity“, ebenfalls ein Paradebeispiel der Männerphantasie von destruktiver Weiblichkeit: Hinter den spröden, unwahrscheinlich schlagfertigen Antworten bei Stanwycks und MacMurrays erstem Zusammentreffen spürt man dennoch den Schock sexuellen Erkennens. Das eindrücklichste Moment bei Douglas' und Stones erster Begegnung ist ihre luxuriöse Behausung. Während des gesamten Films ersetzt das Geld, in Form von teuren Autos, Garderoben, Häusern, die erotische oder sonstwie geartete Spannung, wobei letzere primär durch den ungeheuer manipulativen musikalischen Hintergrund erzielt wird.

Da Chemie daraus resultiert, wie die Sinnlichkeit in der darstellerischen Performance sublimiert wird, ist der anti-chemischste Moment von „Basic Instinct“ zweifellos der, als Sharon Stone im polizeilichen Verhörraum ihre übereindergeschlagenen Beine auseinandernimmt und dabei kurz das „Zentrum“ der Weiblichkeit enthüllt. Zum einen ist die Sequenz viel zu explizit, Reden überflüssig geworden. Zum andern offenbart der Aufmarsch des gesamten Sortiments männlicher Angstvorstellungen – weibliche Attraktivität als Waffe, Kastrationskomplex, Vagina dentata, im Verbund mit der nur allzu offenkundigen Konnotation des Beischlaf-Mords mit einem Eispickel – die fundamentale Künstlichkeit des Films, seinen schockierenden Mangel an emotionalem Engagement. Von dieser Sequenz an bewegt der Film sich in eine völlig neue Richtung: Geplänkel und spitze Bemerkungen werden nicht mehr genutzt als Repräsentation von Sex, es ist nun umgekehrt Sex, der Geplänkel und verbalen Schlagabtausch zu vertreten hat.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen