: "Da ist was schiefgegangen"
■ Prozeß um eine Kreuzberger Wohnung, die mit Holzschutzmitteln belastet ist, zeigt das Dilemma von Gerichtsverfahren: Dem Vorsitzenden wachsen die Aktenberge über den Kopf
Wenn Holzschutzmittel durch die Decke tropfen, weil Bauarbeiter im Stockwerk darüber pfuschen, müßte diese Wohnung anschließend saniert werden – denkt man. Weit gefehlt. In einem gestern angelaufenen Prozeß vor dem Amtsgericht Kreuzberg beschäftigte sich der Vorsitzende Richter Karl-Heinz Schmitz mit der entscheidenden Frage gar nicht: Darf die mit Pentachlorphenol (PCP) und Lindan belastete Vierzimmerwohnung weiterhin bewohnt werden? Auf eine Klärung dieser Frage drängte die Klägerin, die vierköpfige Familie Schillen-Kanbay.
Der Vorsitzende will sich aber mit dem Urteil eines anderen Prozesses zufriedengeben. In jenem Verfahren hatte Hausbesitzer Karl-Heinz Steinebach durchsetzen können, daß er die in einem Gutachten festgestellten krebserzeugenden Gifte nicht entfernen muß. Das Abhängen oder Überstreichen von Wänden, Fußböden und Decken genüge. Amtsrichter Schmitz räumte gegenüber der taz ein, daß in dem Verfahren vor dem Landgericht die Frage zwar gar nicht geklärt wurde, ob nach dieser Renovierung die Wohnung wieder bewohnbar sei, aber jenes Urteil sei eben „rechtskräftig“. Und darüber schien er auch ganz erleichtert zu sein, denn auf seinem Tisch sind die Akten mittlerweile zu einem Berg angewachsen. Über den Papierstapel schüttelte er mehrmals den Kopf und seufzte: „Da ist was schiefgegangen.“ Der Streit zwischen Mieter und Vermieter sei so heftig, daß es besser wäre, das Mietverhältnis aufzulösen, glaubte der Richter.
Über zweieinhalb Jahre ist der Vorfall in der Grimmstraße her. Seitdem müssen sich Rudi (39 Jahre), Rana (34) und ihre beiden sechs- und achtjährigen Töchter mit einer Zwei-Zimmer-Ersatzwohnung im Wedding zufriedengeben. Verständlicherweise ist Familie Schillen-Kanbay auf Hausbesitzer und Architekt Steinebach nicht gut zu sprechen.
Immerhin gelang es Kanbays Anwalt, Joachim Garbe-Emden, den Vorsitzenden offenbar von der Auszugsforderung abzubringen. Kanbays Einkommen sei an der unteren Grenze, bei der derzeitigen Wohnungsnot eine bezahlbare Vierzimmerwohnung nicht zu finden.
Eine Urteilsverkündung erwartet Garbe-Emden frühestens in drei Wochen. Vielleicht muß der Vermieter den Hausrat komplett ersetzen, Wände überstreichen, Decken abhängen und wird der Antrag auf Kündigung abgelehnt. Ob die Wohnung, in der alle Familienmitglieder innerhalb weniger Tage nach dem Durchtropfen krank geworden waren, bewohnbar ist, weiß trotz Gerichtsurteil noch immer niemand. Dirk Wildt
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