„Rüber zu der Ost-Pflanze“

■ Am Tag der deutschen Einheit vor dem Palast der Republik Für Kunst zum Mitmachen interessieren sich nur wenige

Manchmal ist Lieselotte Schulz richtig wütend. Jetzt zum Beispiel. Die Sprecherin der Berliner Komitees für Gerechtigkeit macht kleine Augen und zürnt: „Alle sind hier, sogar ausländische Sender, nur das deutsche Fernsehen ignoriert uns. Aber wir werden bald ganz Deutschland mobilisieren.“ Rund 70.000 Menschen, immerhin 0,09 Prozent der deutschen Bevölkerung, haben die Komitees schon wachgerüttelt – zumindest haben sie für den Erhalt des Palastes der Republik unterschrieben. Heute geht ihre „sanfte Belagerung“ des asbestverseuchten Hauses zu Ende. Rund 200, meist ältere Menschen, haben sich am Osteingang des Gebäudes getroffen. Sie wollen am „Tag der deutschen Einheit“ nicht die Wiedervereinigung feiern, sondern endlich wieder in „ihren“ Palast der Republik.

„Hier konnte jeder einfach rein und sich hinsetzen“, erklärt ein älterer Herr einem Fernsehteam. In die Kamera hält er eine Aufnahme vom Foyer des Republikpalastes: Braune Knautschledersofas, Kronleuchter, Springbrunnen und lauter vergnügte Bürger der DDR sind darauf zu sehen.

An einem Büchertisch läßt sich eine Frau gerade die letzte von fünf Unterschriftenlisten vorlegen. Sie hat im Bündel unterschrieben, gegen die Erhöhung der BVG- Fahrpreise für Senioren, gegen die Schließung des Terrariums im Tierpark, für Solidarität mit den Kali-Kumpel, gegen die Paragraph-218-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und natürlich für den Erhalt des Palastes. „Wird schon alles stimmen“, meint sie etwas unsicher. Die Mitarbeiterin hinterm Büchertisch nickt.

Um halb eins stößt eine ältere Dame ihre Nachbarin an und deutet entzückt auf einen grauhaarigen Mann, der aus der kleinen Menge tritt: Jürgen Walter, beliebter Sänger in der ehemaligen DDR. Im perfekten Playback singt er von seinem Berlin und verblüfft mit französischem Text: „La vie que j'ai dans la peau.“ Obwohl der junge Moderator weitere „Höhepunkte“ ankündigt, läßt das Interesse nach. Für einige gibt es keine Höhepunkte nach Jürgen Walter.

Am Brandenburger Tor hat inzwischen die Performance „Tausend Tapeziertische Unter den Linden“ begonnen. Wolfgang Fenner, ein Künstler, hat alle interessierten Menschen zu dieser Aktion aufgerufen. Jeder, ob Molekularbiologe, Penner oder Politikerin solle mit einem Tapeziertisch kommen, malen, experimentieren, utopisieren, um mit anderen den inneren Prozeß der Vereinigung zu erleben. Doch es interessierten sich nur rund 50 Menschen – alle ohne Tapeziertisch. An den elf Tischen des Künstlers malt nur einer – allerdings von einem Kamerateam begleitet. Auf seinem Bild: Zwei lila Pfützen und ein Strauch. Seine Erklärung: „Der Westen ist das Wasser und wir müssen da rüber zu der Ost-Pflanze. Doch das Wasser stellt Bedingungen und die Pflanze kann nicht leben. Ist doch was dran, oder?“

Die einzige deutsche Fahne weit und breit trägt ein Punk. Sie hält den rechten Oberschenkel seiner Jeans zusammen. In der Mitte prangen Hammer und Sichel. Nils Klawitter