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Indien streitet um seine Toten

■ Erdbebenopfer auf mindestens 35.000 geschätzt / Zu Tausenden werden die Leichen verbrannt, die Überlebenden sollen umgesiedelt werden / BJP-Opposition wirft den Behörden Versagen vor

Neu-Delhi/Killari/Berlin (taz/ wps/AFP) – Fauliger Rauch hängt über Schutthaufen, die einst Häuser waren. In die drückende Hitze von über 30 Grad steigt Leichengeruch, neben den Trümmern brennen unzählige Feuer: Die Überlebenden verbrennen ihre Toten. Killari, einst ein 5.000-Einwohner- Ort im indischen Bundesstaat Maharashtra, gleicht einem Krematorium. Ohne Identifizierung werden leblose Körper von Polizisten auf Scheiterhaufen geworfen, während traumatisierte Stadtbewohner durch die Ruinen irren auf der Suche nach übriggebliebenen Angehörigen. Die leuchtenden Sonnenblumenfelder weiter draußen, von denen die hiesigen Bauern leben, sind ein geradezu höhnischer Kontrast.

35.000 Menschen, schätzten die indischen Behörden gestern, sind in dem Erdbeben vom Donnerstag ums Leben gekommen – und die Zahl steigt täglich. Die in die Berge vordringenden Armee-Einheiten finden immer neue schwer beschädigte Dörfer, und da keiner sagen kann, wie viele Menschen dort vorher wohnten, können auch keine verläßlichen Todeszahlen errechnet werden. Einige Ortschaften sind so abgelegen, daß keine Rettungsteams mehr hinkönnen. Sechzehn Dörfer sind total zerstört, zehntausend Leichen sind insgesamt geborgen worden; die Suche nach Überlebenden in den 80 betroffenen Ortschaften wurde am Samstag abend eingestellt. Schwere Unwetter, untypisch für diese Jahreszeit nach dem Ende des Monsuns, haben die Erdbebenregion in eine Schlammwüste verwandelt, die Ankunft der Rettungsteams verlangsamt und die Bergung der Leichen erschwert. Die Gewitter führten zu Stromausfällen, so daß Ärzte die Verletzten bei Kerzenlicht versorgen mußten. Unter denen, die mit dem Leben davonkamen, wächst nun die Furcht vor Cholera und Typhus. „Wenn das so weitergeht“, sagt Ladenbesitzer Ajay Kumar in Latur, „liegt die Wahrscheinlichkeit einer Epidemie bei hundert Prozent.“

„Die Zerstörung ist so groß, daß wir noch keine genauen Berichte bekommen haben“, sagte Indiens Premierminister Narasimha Rao am Wochenende in einer Rede an die Nation. „Die Aufgabe ist überwältigend.“ Und sie fängt gerade erst an. Gestern sollten zwei US- Luftwaffentransporter mit Hilfsgütern in der Landeshauptstadt Bombay eintreffen. Aber wie sollen die Zelte, Medikamente, Decken und Trinkwasserbehälter hinauf in das Katastrophengebiet gebracht werden? Die wenigen engen Straßen sind voll von obdachlosen Erdbebenflüchtlingen und Militär.

25.000 Soldaten der indischen Armee sind bereits im Einsatz. Vorrangig sind sie damit beschäftigt, das Katastrophengebiet abzuriegeln, um das Eindringen von Schaulustigen zu verhindern. Eine halbe Million Menschen aus dem Umland sollen schon eingereist sein, manche mit Lebensmittelspenden, manche aber auch in der Hoffnung auf kostenlose medizinische Behandlung. „Wenn wir das Verkehrschaos nicht in den Griff bekommen“, sagt in Killari Armeekommandeur Rao, „können wir die Arbeiten hier einstellen.“ Mit Schlagstöcken vertrieb die Polizei am Samstag abend Fremde aus Killari. Sicherheit geht vor.

Keine der zerstörten Ortschaften soll wiederaufgebaut werden, sagte der Premierminister des Bundesstaates Maharashtra, Sharad Pawar, am Samstag. Mit internationaler Hilfe solle an einem nicht näher genannten Ort ein „Township“ gebaut werden und die schätzungsweise 130.000 überlebenden Obdachlosen aufnehmen. „Es gibt keinen anderen Weg“, sagt Armeekommandeur Rao. „Die Verwaltung wird alle diese Dörfer evakuieren. Sie werden irgendwohin umgesiedelt.“ In der Zwischenzeit würden Zeltlager errichtet.

Warum aber, fragt die Opposition – vor allem die rechtsnationalistisch-hinduistische Partei BJP – sind die Bewohner der gefährdeten Gebiete nicht schon vorher umgesiedelt worden? Während des letzten Jahres, so die BJP und auch die lokalen Behörden, habe es in der Region eine Vielzahl kleinerer Beben gegeben; allein das total zerstörte Killari habe an einem einzigen Tag im Oktober 1992 23 Erdstöße erlebt. Die Landesbehörden hätten damals eine Evakuierung des Ortes geplant, aber nie ausgeführt. Die Regierung hat diese Vorwürfe zurückgewiesen. Aber viele Überlebende haben sie bestätigt.

In Maharashtra und seiner Hauptstadt Bombay ist die Hindu- Partei BJP sehr aktiv; sie stellte mehrere Jahre lang die Landesregierung, bis sie nach der Tempelstürmung von Ayodhya im Dezember 1992 von der Zentralregierung amtsenthoben und ihr Führer Lal Kishvan Advani zeitweise inhaftiert wurde. Die BJP nennt die jetzige kommissarische Kongreß- Administration von Maharashtra illegal und nimmt auch das Erdbeben zum Anlaß, ihre Kampagne gegen sie zu verstärken. BJP-Führer Advani persönlich hat das Unglücksgebiet besucht und gegen die „Untätigkeit“ der Landesregierung gewettert. Auch schlechte Koordination bei den Hilfsaktivitäten wird angeprangert: Soldaten der Armee hätten BJP-Hilfsorganisationen aus dem Katastrophengebiet ausgewiesen, heißt es.

Wenn Indien eine Sonderbehörde zur Bewältigung der regelmäßig wiederkehrenden Naturkatastrophen hätte und sich nicht jedesmal auf das eigentlich anderen Zwecken dienende Militär verlassen müßte, so viele unabhängige Kritiker, hätten mehr Menschen gerettet werden können. Indische Seismologen halten zwar den Südwesten Indiens für eine „ruhige“ Region, verweisen aber auf ein kleineres Erdbeben, das sich vor 25 Jahren nicht weit entfernt beim Koyna-Staudamm ereignete und einige hundert Todesopfer forderte. Ökologen sagen schon länger, daß die Zunahme von Staudammprojekten in der Region mit der Zunahme von Erdstößen zusammenhängen könnte. Viel Stoff für politische Kontroversen also. Aber ob es den Opfern hilft? D.J.

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