piwik no script img

Seit Tagen hatten der selbsternannte russische Gegenpräsident Ruzkoi und sein Mitstreiter, Parlamentspräsident Chasbulatow, versucht, die Massen auf die Straße zu treiben. Am Wochenende begann die Eskalation des Moskauer Machtkampfs. Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Getrieben vom Wegbrechen der Gewißheit

Der Aufstand begann am frühen Sonntagnachmittag, just dort, wo es schon am Vortag zu einer Straßenschlacht zwischen Anhängern des selbsternannten Gegenpräsidenten Ruzkoi und den Sicherheitskräften gekommen war: auf dem Smolensker Platz. Die Demonstranten, unter ihnen viele ältere Leute, schwenkten die rote Fahne der früheren Sowjetunion und riefen in Sprechchören: „Alle Macht den Räten!“ Gegen 15.00 Uhr Ortszeit durchbrachen mehrere tausend Demonstranten dann die Kette der Bereitschaftspolizei auf dem nahe gelegenen Kaluschkaja-Platz und zogen wenig später zum drei Kilometer entfernten Parlamentsgebäude. Beim Durchbrechen der Kordons warfen die Aufständischen mit Steinen und Molotowcocktails, es kam zu blutigen Auseinandersetzungen, und es gab zahlreiche Verletzte. Über einen Lautsprecher rief Ruzkoi vom Balkon des „Weißen Hauses“ aus die Menschenmenge auf, das Moskauer Rathaus und die Fernsehzentrale zu stürmen. „Ich rufe euch auf, nehmt Positionen ein und greift das Büro des Bürgermeisters an!“ rief Ruzkoi. Auch die Anlagen des staatlichen Fernsehens am Stadtrand von Moskau sollten gestürmt werden, forderte Ruzkoi. Dann eröffnete die Polizei das Feuer, die Aufständischen errichteten Barrikaden – wie schon am Tag davor.

Eigentlich wollte Moskau an diesem Samstag feiern: Die legendäre Bummelmeile, der „Arbat“, beging ihr 500jähriges Jubiläum. Seit einigen Jahren ist sie eine Fußgängerzone mit Nippes und allerhand Überflüssigem. Der Kommerz hat sich in jedem Hinterhof eingenistet. Früher war es einmal etwas wirklich Russisches – Armut, Leid und Glück in einem. Gegenstand unzähliger Lieder, Oden und Saufballaden. Ein kommerzielles Unternehmen hatte eine Tribüne am Gartenring, am Ende des Arbats, direkt neben dem protzenden Stalinbau des Außenministeriums, aufziehen lassen. Doch sie wurde ihrem Zweck gar nicht erst zugeführt. Demonstranten rüsteten sich mit Stahlrohren und Gewinden. Sie verstehen sich als die Vollstrecker des Willens der „belagerten Volksdeputierten“. Seit Tagen versuchen der selbsternannte Präsident Ruzkoi und Parlamentsvorsitzender Chasbulatow, die Massen auf die Straße zu treiben. Ständig rufen sie zu Widerstand und Generalstreik auf. Doch die Massen bleiben zu Hause. Was kommt, ist der desorientierte Mob.

„Die Macht dem Volk“ stand da auf einem ausgeschlachteten LKW zu lesen; was sich für eine Befestigung brauchen ließ, wurde fortgeschleppt. Im Innern der Barrikaden standen meist ältere Leute rum. Sie waren immer Opfer, den Übergang in die neue Zeit haben sie nicht verkraftet. Es waren nicht viel mehr als ein paar hundert an diesem Tag. Destruktion ist ihre Befreiung. Unter dem alten Regime hätten sie nach Ordnung geschrien. Schon bei einem unachtsam weggeworfenen Stück Papier wären sie in Ordnungstiraden verfallen. Das Wegbrechen der Gewißheit ist es, das sie hierher getrieben hat. Leute, die einmal auf den untersten Etagen der Partei ein bescheidenes Dasein fristeten. Die obersten haben sich davongemacht und sie stehenlassen.

Antisemitisches Geschwätz am Lagerfeuer, in das Jugendliche alles Kautschukartige warfen, damit es nur ordentlich qualmte. Ein Russe, in abenteuerlicher Montur, hielt ein Brandrede auf die Amerikaner in Rußland, die nicht einmal Russisch sprächen. Als wär' das so leicht. In völliger Verkennung der eigenen Leistungsfähigkeit. Im martialischen Schritt näherte sich eine Gruppe wichtigtuerischer Männer. In ihrer Mitte Gennadij Suganow, einer von den Rotbraunen, den Hetzern, aus dem Parlament, der über die Barrikade sprang. Eigentlich müßte er doch im Parlament sein? Wie kommt er hierher? So einfach durch den Kordon der Polizei geschlüpft? Gerüchte kursieren, die Geheimausgänge des Weißen Hauses seien vermint worden. Die Menge hängte sich an seine Fersen. Endlich erhält sie Anerkennung. Einer der Ihren ist aufgetaucht. Er bedankte sich bei den „Rettern“ Rußlands, dann zog er mit Gebrüll und einem Haufen in die nahe gelegene U-Bahn.

Indes riefen klägliche Figuren von der Tribüne zum Ausruhen auf. „Morgen geht der Kampf weiter.“ Sie fühlten sich stark, obwohl nur ein winziges Häuflein. Haß sprang ihnen aus dem Gesicht. Für die lebenslange Erniedrigung. Sie lassen sich mit flammendem Herzen verheizen – von jenen, die ihnen damals auch nichts gegönnt haben. Doch an diesem Abend zogen sie nach Hause, 34 Verletzte blieben zurück, die meisten von ihnen Polizisten. Einer wurde von einem Wagen überfahren und starb. Das ist die Bilanz der Aufwiegler aus dem „Weißen Haus“, die die „Demokratie“ beschwören, aber die Oligarchie meinen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen