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Die russische Orthodoxie nutzt die Gunst der Stunde

■ Die Vermittlungsbemühungen des Moskauer Patriarchen Alexej II. bringen keine wirklichen Ergebnisse, nur riesigen Pomp und eine überflüssige Dramatisierung

„Jetzt kommen auch die noch dazwischen. Wenn die Kirche sich bei uns in die Politik einmischt, haben die einfachen Menschen nichts Gutes zu erwarten“, meinte Taissa entsetzt, als sie von den Bemühungen der russisch-orthodoxen Kirche hörte, in dem Machtkampf den Vermittler zu spielen. Taissa weiß, wovon sie redet. Ihr Großvater war hochgestellter Würdenträger, der Stalin zum Opfer fiel. Sie selbst geht ab und an zum Gottesdienst. Doch ihre Auffassung von der Orthodoxie in der russischen Geschichte ist eindeutig, die Kirche hat sich nie mit Ruhm bekleckert.

Die Bemühungen des Patriarchen Alexej II., die Parteien an einen Tisch zu bekommen, um einen Ausweg aus der Krise zu finden, scheinen zunächst lobenswert – röchen sie nicht allzusehr nach Opportunismus, durch den sich die verkrustete Orthodoxie schon immer hervorgetan hat. Schon während des Putsches 1991 bot sich die Kirche an, als Mittler aufzutreten. Damals wollte sie keiner. Sie meldete sich erst zu Wort, als der Kampf entschieden war, am dritten Tag. Heute kam Jelzin auf das Angebot zurück und wertete die Kirche damit auf. Denn sie hat die Zeit des Umbruchs in Rußland bisher verschlafen. Den Menschen Halt zu bieten gelang ihr nicht. Ihr völlig verstaubter Byzantinismus hat sich seit dem letzten Jahrhundert nicht maßgeblich gewandelt. Damals paktierte sie mit dem Zarismus gegen die Interessen der ihr anvertrauten Schäflein.

Natürlich wird Alexej II. an einer unblutigen Lösung des Konfliktes gelegen sein. Doch schon die vorgespielte Objektivität, mit der die Kirche die Verhandlungen führt, wirft ein schiefes Bild auf das, was tatsächlich in Moskau läuft: der Versuch nationalistischer und kommunistischer Kleinstgruppen, Moskaus Öffnung rückgängig zu machen. In seiner offiziellen Stellungnahme warnte der Patriarch vor einem Bürgerkrieg und dem drohenden Zerfall des russischen Staatswesens. Abgesehen davon, daß die Analyse der derzeitigen Vorgänge derartige Schlußfolgerungen nicht zuläßt, bedient sich ausgerechnet die Kirche des Vokabulars und der Propaganda, die die reaktionären Kreise beschwören, um das Volk aufzuhetzen.

Die Unfähigkeit des Klerus, die Realität zu erkennen, moralische und geistliche Antworten zu geben, schlägt um in das Bestreben, sich wieder in den Rang einer Staatsreligion aufzuschwingen. Die Ansprache des Patriarchen drohte allen, die gegen den Frieden verstoßen, mit Exkommunikation. Die Kirche nutzt die Gunst der Stunde, um vom Vermittler zum Exekutor zu werden.

Wären die Machtverhältnisse andere, würde sich ein Großteil der führenden Orthodoxie auf die Seite der Opposition schlagen. Denn die Öffnung Rußlands im Sinne Jelzins, eine Anlehnung an westliche Vorstellungen, behagt der düsteren Orthodoxie überhaupt nicht. Bis heute hält sie ihre Lithurgie noch in Altkirchenslawisch, das kaum ein Russe versteht. Sie klammert sich an die „Überlegenheit“ und die vermeintliche Besonderheit alles Russischen. Indem die Kirche in den Machtkampf eingreift, verlängert sie den Konflikt zugunsten der Opposition, die bewußt auf Zeit spielt.

Die Zuspitzung des Konfliktes, die Radikalisierung der Opposition, deren Rädelsführer Ruzkoi und Chasbulatow zu Meuterei, Generalstreik und Gewalt aufrufen, zwingt die Kirche indirekt, sich von diesen Kräften zu distanzieren, will sie in den Augen der Gläubigen keinen Schaden nehmen.

Der Aufruf des Patriarchen trägt die Unterschrift aller Metropoliten der russisch-orthodoxen Kirche. Unter ihnen auch Metropolit Johann von St. Petersburg und Ladoga, der sich nicht entblödet, in Zeitungen der Reaktion wie der Sowjetskaja Rossija antisemitische, nationalistische und extrem rechte Artikel zu veröffentlichen. Hier werden neue Mythen organischer Verschmelzung Rußlands mit der Orthodoxie produziert, die im Endeffekt daraus einen neuen russischen Messianismus ableiten. Immer wieder dasselbe: orthodoxe Intuition gegen westliche Vernunft, die zu einem hohlen „Pseudohimmel“ verkommen sei. Rationalismus und Individualismus, die die russische Geschichte nicht kennt, werden in diesen Ausführungen zu Teufelswerkzeugen.

Die Trennung von Staat und Kirche, schrieb einer dieser Ideologen, der Abgeordnete Polosin, sei eine westliche Erfindung der Aufklärung, die in Rußland erst der Kommunismus eingeführt hat. Auf der Suche nach dem religiösen Monopol paktierte die Kirche mit dem Obersten Sowjet, der ein Religionsgesetz erließ, das das Wirken anderer Religionsgemeinschaften „von außen“ quasi verbietet. Die Angst der Orthodoxie, den Hoheitsanspruch zu verlieren, ist gewaltig. Die Unfähigkeit der Orthodoxie, auf heutige Fragen Antworten zu finden, hat viele in die Arme anderer Religionen und religiöser Scharlatane getrieben. Die Menschen davor zu schützen, gibt die Kirche vor, doch sie bangt nur um ihre eigene Selbstgewißheit.

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