■ Auch in Georgien spitzt sich der Machtkampf zu: Wo bleibt der Westen, wo die UNO?
Neben den dramatischen Ereignissen in Moskau droht die brisante Entwicklung im Kaukasus in den Hintergrund zu treten. Die unerwartete Zuspitzung der innergeorgischen Machtgegensätze muß allerdings mit größter Sorge verfolgt werden, denn in der Vielvölkerregion verbergen sich unter der Oberfläche zahllose ethnisch-politische Konflikte, deren Ausbruch das Kaukasusgebiet im Nu zu einem weiteren Balkan werden lassen kann.
Der Konflikt um Abchasien etwa hat eine lange Geschichte und beginnt spätestens mit der massenhaften Auswanderung muslimischer Abchasen in die Türkei nach dem Sieg Rußlands im türkisch-russischen Krieg von 1864. Schon Ende des vergangenen Jahrhunderts, als knapp 60.000 Abchasen etwa 25.000 „Kartveliern“ (so der Oberbegriff für die miteinander verwandten Georgier, Mingrelier und Lasen) und wenigen Russen gegenüberstanden, begann die Einwanderung von Mingreliern und Georgiern, bis schließlich in der Volkszählung von 1989 die Abchasen mit knapp 18 Prozent gegenüber fast 46 Prozent Kartveliern deutlich zu einer Minderheit im eigenen Land geworden waren. Inzwischen ist durch Zuwanderung der Anteil der Armenier und Russen fast so hoch wie der der Abchasen.
Im August 1990 erklärte sich Abchasien, das von einem selbständigen Georgien außerhalb der UdSSR eine weitere Georgisierung befürchtete, zu einer eigenständigen Sozialistischen Sowjetrepublik und ernannte Wladislaw Ardsinba zum Präsidenten. In Georgien wurde mit dem aus Mingrelien stammenden Swiad Gamsachurdia erstmals in freien Wahlen ein Präsident gewählt; im April 1991 erklärte Georgien seine Unabhängigkeit.
Der Konflikt um das Territorium Abchasiens blieb ungelöst, und so entwickelte sich der Anspruch beider Staatswesen auf Durchsetzung der Souveränität in einen militärischen Konflikt, in dem die georgischen Truppen einstweilen unterlegen sind.
Ausrüstung und Logistik der abchasischen Streitkräfte sprechen dafür, daß sie Unterstützung von außerhalb bekommen haben. Sicher ist die Beteiligung tscherkessischer und tschetschenischer sowie weiterer nordkaukasischer Freiwilligenverbände. Die Rolle der russischen Armee liegt noch im Zwielicht, doch darf auf russischer Seite ein strategisches und wirtschaftliches Interesse an der einst prosperierenden Region Abchasien angenommen werden. Die nun erklärte Bereitschaft Rußlands, durch Intervention im georgischen Bürgerkrieg friedensstiftend wirken zu wollen, läßt eher Fragen entstehen, als daß sie beruhigend wirken könnte: Warum hat Rußland als Vermittler im abchasisch-georgischen Konflikt das Blutvergießen nicht verhindert? Wie gedenkt Rußland, „ethnische Säuberungen“ in Abchasien zu vermeiden?
Doch nicht nur Rußland, das auf Dauer mit sich selbst reichlich beschäftigt sein dürfte, ist im Konfliktgebiet Kaukasus gefragt. Wo bleiben die Westmächte, wo die Vereinten Nationen? Der jetzt wieder entfachte Machtkampf zwischen dem ehemaligen Dissidenten Gamsachurdia und dem ehemaligen KP-Führer Schewardnadse – beide jeweils in freien Wahlen gewählt – hätte die USA und mit ihnen die UNO sicherlich schon auf den Plan gerufen, wenn, wie in Somalia, amerikanische Öl-Interessen im Spiel wären. Aber der Kaukasus als Wirtschaftsraum ist trotz günstiger natürlicher Voraussetzungen im Weltmaßstab nicht interessant genug, um durch ein stärkeres militärisches Engagement westliche Interessen durchzusetzen. Die Hilferufe Schewardnadses sind ungehört verhallt, und nun besteht die Gefahr, daß Rest-Georgien in einen westlichen Teil unter Gamsachurdia und einen östlichen unter Schewardnadse zerfällt, womit unzweifelhaft auch das Sezessionsstreben der Südosseten neuen Auftrieb erhalten würde, die die Vereinigung mit und den Anschluß an Nordossetien suchen, das fest zur Russischen Föderation steht.
Angesichts Zehntausender Flüchtlinge aus Abchasien steht Georgien vor gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Problemen, die ein weiteres sinnloses Vergeuden von Energien und Ressourcen verbieten. Um so dringlicher ist jetzt die sofortige Beilegung der militärischen Auseinandersetzungen auf georgischem Boden. Ein überzeugendes Engagement der UNO wäre der beste Weg dorthin; das distanzierte Zuschauen, das der Westen auch auf dem Balkan praktiziert hat, fördert nur das Aufbrechen weiterer Konflikte, und es mutet fast zynisch an, wenn Völker, die Demokratie erst noch lernen müssen, dem gleichsam „natürlichen“ Spiel der in ihnen steckenden, auch zerstörerischen Kräfte überlassen werden. Michael Job
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