Die Demokraten in Moskau siegen – mit Gewehren

■ Jelzins Gegner kapitulieren / Dutzende Tote in Moskau / Chasbulatow und Ruzkoi verhaftet

Moskau (taz/dpa/AFP) – Die Gegner Boris Jelzins haben kapituliert, Gegenpräsident Alexander Ruzkoi und Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow sind – nach Angaben eines Sprechers von Boris Jelzin – gestern verhaftet worden. Nachdem russische Regierungstruppen das Weiße Haus zehn Stunden beschossen und schließlich Stockwerk für Stockwerk erobert hatten, verließen 1.000 Jelzin-Gegner am Montag nachmittag gegen 15 Uhr MEZ mit erhobenen Händen und ohne Waffen das Parlament. Vor dem Weißen Haus wurden sie von Angehörigen der Sicherheitstruppen festgenommen und zu bereitstehenden Bussen geführt. Rund eine Stunde später war dann jedoch wieder ein Granateinschlag zu hören, durch den die Fenster der oberen Etagen zerbarsten. Nach Angaben des Innenministeriums befanden sich zu dieser Zeit noch etwa 50 Bewaffnete in dem Gebäude. Vom Dach des Weißen Hauses schossen Scharfschützen auf die Regierungstruppen. Panzerfahrzeuge stießen bis auf die Höfe des Gebäudes vor, das Erdgeschoß des Hochhauses stand in Flammen. Schließlich versuchten die letzten „Verteidiger“ des Weißen Hauses, eine Polizeikette vor dem Parlament zu durchbrechen und zu fliehen. Tausende Schaulustige verfolgten das Geschehen von den umliegenden Dächern oder vom Ufer der Moskwa aus.

Nach der Kapitulation forderten die Führer der Opposition in Gesprächen mit italienischen Journalisten westliche Staaten auf, für ihr Leben zu garantieren. Dann seien sie bereit, sich zu ergeben. Die Mitgliedsländer der EG lehnten dies jedoch ab, nachdem die in Brüssel versammelten Außenminister nach einem Kontakt mit dem Büro Jelzins die Zusicherung erhalten hatten, daß das Leben von Ruzkoi und Chasbulatow nicht in Gefahr sei. Trotz der Kapitulation kam es nach Einbruch der Dunkelheit noch zu mehreren bewaffneten Zwischenfällen im Stadtgebiet.

Unklarheit herrscht über die Zahl der Opfer des zweitägigen Aufstandes. Während die Regierung von 38 Toten und 192 Verletzten sprach, gab es auch Meldungen von mehr als 100 Toten, Berichte über 500 Todesopfer wurden dementiert.

Die Verhandlungen über eine Kapitulation begannen schließlich in den Mittagsstunden. Vertreter der Opposition verließen das Parlament mit weißen Fahnen und trafen sich auf einer Brücke über der Moskwa mit Verteidigungsminister Gratschow. Auch danach flammten die Kämpfe jedoch noch einmal mit großer Härte auf. Scharfschützen verteidigten die letzten Etagen des Weißen Hauses. Das Präsidentenamt teilte mit, die Opposition benutze unbeteiligte Zivilisten als Geiseln. Die Regierungseinheiten hätten Befehl, äußerst vorsichtig vorzugehen. Um Zivilisten nicht zu gefährden, hätte der für die Eroberung festgelegte Zeitplan nicht eingehalten werden können.

Präsident Boris Jelzin rechtfertigte am Montag morgen in einer Fernsehrede die Gewaltanwendung gegen die Opposition, die am Vortag einen gewaltsamen Aufstand gestartet habe. Er versprach, die Rebellion in kürzester Zeit niederzuschlagen, die Gruppen, die sich an dem Aufstand beteiligt hätten, würden verboten werden. Vizeregierungschef Schumejko kündigte an, daß die Verantwortlichen vor Gericht gestellt würden.

Im Zusammenhang mit der Verkündung des Ausnahmezustands verbot Jelzin außerdem zahlreiche Zeitungen der Opposition, darunter auch das frühere KP- Organ Prawda. Während der Ausnahmezustand jedoch nur bis zum kommenden Wochenende gelten soll, war unklar, ob auch das Zeitungsverbot dann aufgehoben werden wird. Jelzins Militärberater Dimitrij Wolkogonow teilte mit, daß Jelzin bereits vor der Auflösung des Parlaments am 21. September Informationen erhalten habe, daß ein bewaffneter Staatsstreich gegen ihn vorbereitet werde.

In den anderen Städten und Regionen Rußlands blieb es am Montag ruhig. Nach Regierungsangaben hatten sich nur vier der 88 russischen Föderationsmitglieder auf die Seite der Jelzin-Gegner gestellt. Die Nachrichtenagentur Interfax meldete dagegen, 35 Regionalparlamente hätten den Präsidenten zu einer Einstellung des Angriffs auf das Weiße Haus aufgefordert. In den sibirischen Städten Tomsk und Nowosibirsk riefen demokratische Parteien zu Kundgebungen für Jelzin auf. Tausende von Jelzin-Anhängern versammelten sich im Laufe des Tages im Zentrum der Hauptstadt. Der Militärkommandant von Moskau, Alexander Kulikow, verhängte eine nächtliche Ausgangssperre von 23.00 Uhr bis 5.00 Uhr.

Die EG-Außenminister bekräftigten bei ihrem Treffen in Luxemburg die Unterstützung für Boris Jelzin. In Moskau finde ein bewaffneter Aufstand statt, und den könne keine Regierung dulden. Gleichzeitig wurde jedoch auch an die „gegnerischen Seiten“ appelliert, weitere Gewaltanwendung zu vermeiden und zum Reformprozeß zurückzufinden. Die EG- Kommission will knapp 600.000 Mark für die Opfer der gewalttätigen Auseinandersetzungen bereitstellen. her

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