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Terror, Schrecken, Wunder

Flaschenpost. Das gerettete Buch des Simcha Guterman – ein Patchwork, das die Geschichte fügte  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

Zwischen zwei Buchdeckeln drei Bücher, alle drei auf ihre Art fragmentarisch, dazwischengesetzt drei Gedichte auf jiddisch und deutsch, die von einem polnischen Juden Anfang der vierziger Jahre stammen. Erzählt wird zunächst, faktenorientiert und reportierend, die unglaubliche Geschichte eines verlorenen, zweimal wiedergefundenen Buches. Dem folgt der zwischen Januar und Mai 1942 aufgezeichnete literarisch-dokumentarische Text des Gedichtautors Simcha Guterman selbst, der am ersten Tag des Warschauer Aufstands, dem 1. August 1944, in der Uniform eines klerikal-nationalkonservativen Widerstandskämpfers fiel. Dessen Sohn Jakov schließlich, 1950 mit der Mutter von Polen nach Israel ausgewandert, erzählt seine eigene Geschichte sowie diejenige seiner Eltern. Darin enthalten ist die Erinnerung an die Entstehung, den Verlust und die Wiederentdeckung des Vater-Buches, zugleich aber auch das Schicksal all der nun wohl endgültig verlorenen, einst im Beisein des Sohnes in fremden Häusern verborgenen, mit und in diesen vermutlich zerbombten und vernichteten Schriften des linken Intellektuellen Simcha Guterman.

Jakovs Bericht aber setzt sich fort bis in die jüngste Vergangenheit: Er zeichnet das Leben des einundzwanzigjährigen Raz nach, der am 6. Juni 1982, dem ersten Tag des Libanon-Krieges, gefallen ist, und er erzählt damit noch einmal von einem anderen Buch. Das hat er selbst dem Andenken seines Sohnes, der Erinnerung an eines der im Kibbuz aufgewachsenen „Traumkinder“ der Überlebenden des Holocaust gewidmet: Raz, der sich in der israelischen „Peace now“-Bewegung engagierte und es dennoch für seine Pflicht hielt, in der israelischen Armee als Angehöriger einer Eliteeinheit zu dienen und sich dort in einem Himmelfahrtskommando zu Tode bringen zu lassen.

Zwischen alledem gibt es immer wieder Hinführungen, Erläuterungen, auch streng akademische Fußnoten und Verweise der französischen Herausgeberin, deren Vater, Zufall oder nicht, aus derselben polnischen Kleinstadt stammt wie Simcha und Jakov Guterman und der schließlich als Übersetzer mit dazu beigetragen hat, daß dieses Buch überhaupt erscheinen konnte. Wer Antonia Byatts Roman „Besessen“ gelesen hat oder auch „Die Wahrheit über den Fall D.“ von Fruttero und Lucentini, läuft hier unvermeidlich Gefahr, das Ganze immer mal wieder für ein postmodernes literarisches Vexierspiel zu halten: Wunder, Terror und Schrecken, Dokumentation, Skizze und literarischer Text gehen ineinander über. Leben, Tod, Überleben und Erinnerung bedingen einander, und die Kausalität, die sie miteinander zu verknüpfen scheint, mag man sich mitunter nur noch als ein innerliterarisches Konstrukt denken – Fluchtmechanismen aller Art gehören also auch zur Lektüre dieses Mehrfach-Buches.

„Du sollst deinen Kindern erzählen.“ Dieser alttestamentarischen Aufforderung folgt Simcha Guterman, wenn er auf langen und schmalen Papierstreifen, wie sie in Druckereien beim Schneiden der großen Bögen anfallen, das Schicksal der Juden von Plock aufzuzeichnen versucht. Er schreibt auf jiddisch, in hebräischen Buchstaben, wo und wann immer sich – zunächst im Ghetto, dann auf der Flucht durch Polen mit falschen Papieren – eine Gelegenheit bietet. Sein Ehrgeiz aber geht nicht allein dahin, möglichst präzise zu dokumentieren. Guterman arbeitet vielmehr an einem literarischen Werk, das weit in die Vorkriegszeit zurückgreift und ostjüdische Geschichte vom Eindringen der Moderne in das Denken und Verhalten der chassidischen Juden bis hin zu ihrer Deportation in die deutschen Vernichtungslager szenisch beschreibt. Wenn dabei eine Textmenge zusammengekommen ist, die eine leere Flasche füllen kann, führt Simcha seinen kleinen Sohn an die Stelle, an der er die Lebenszeugnisse verbirgt, und gibt ihm exakte Merkaufträge.

Er selbst ist sich gewiß, daß er die Herrschaft der Deutschen nicht überleben wird, aber ebenso sicher ist er, daß Jakov die Erinnerung bewahren, das literarische Vermächtnis des Vaters der Nachwelt überliefern wird.

Doch ist Jakov später nicht in die Lage gekommen, die von Fluchtort zu Fluchtort hinterlegten Aufzeichnungen seines Vaters zu bergen. Erst Zufälle der unwahrscheinlichsten Art haben den Inhalt einer einzigen Flasche auf komplizierten Wegen schließlich an die Öffentlichkeit gebracht. Da ist dann zu lesen vom Einbruch der Deutschen in die ohnedies schwierige, von antijüdischen Ressentiments und Aggressionen alleweil geprägte jüdische Lebenswirklichkeit in Polen; von Fluchtversuchen und der Errichtung eines Ghettos in der Kleinstadt; von den sinistren Aktivitäten des von den Deutschen eingesetzten Judenrats; von Verzweiflung, Mord und Willkür; aber ebenso auch von jüdischem Widerstand, der Deportation und Internierung freilich weder verhindern noch auch nur verzögern konnte.

Hier endet Simchas Erzählung nach 28 Kapiteln und einem Epilog, das übrige tragen die Überlebenden nach: wie die kleine Familie sich durch die Hilfe von Christen retten konnte, wie sie floh, endlich in Warschau anlangte und Simcha sich dem Widerstand anschloß. Daß die abenteuerliche und stets gefährdete Rettung des Sohnes Jakov und seiner Mutter nur in neuerlich bedrohliche antisemitische Verhältnisse im Nachkriegs-Polen führte, zeigt dann Jakov Guterman in seinen verknappten, assoziativen Erinnerungen. Er erzählt auch, wie die Bedrohung der eigenen Existenz schließlich in Israel zwar einen ganz anderen Charakter annimmt, wiederum aber zu sinnlosen Opfern, zu Tod und Leiden führt, so daß der Überlebende nun zwischen einer verlorenen Vergangenheit und seiner verlorenen Zukunft steht und nur noch versuchen kann, die Erinnerung an beide zu erhalten – ein emotionaler, im Hinblick auf seinen Sohn Raz ohne Umschweife gegen das militärische Establishment in Israel gerichteter Bericht.

All diese verwickelten, so horriblen wie wundersamen Vorgänge auf gänzlich verschieden angelegten Ebenen zu lesen ist keine leichte Übung und auch durchaus nicht unterhaltsam. In keinem Augenblick aber entsteht der Eindruck, man unterziehe sich hier einer schulmäßigen „Bewältigungs“- Aufgabe. Ganz im Gegenteil: Dieses „Angebot, mit eigenen Augen zu sehen, was vorging“, betrifft unmißverständlich stets auch die unmittelbare Gegenwart – und dies beileibe nicht nur im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten.

Nicole Lapierre (Hg.): „Das gerettete Buch des Simcha Guterman“. Aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner. Carl Hanser Verlag, 320 Seiten, geb., 12 Abb., 45 DM

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