: Der große Enttabuisierer
Herrn Heitmann kannten nur wenige. Jetzt bekommt der Kandidat Fanpost – auch von Rechtsradikalen ■ Von Michaela Schießl
Alles ein Mißverständnis, jammert Steffen Heitmann, Justizminister von Sachsen und Kohls Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. In Wahrheit ist er der große Enttabuisierer. Sein Programm: Stimmband sein für des Volkes Kehle. Beste Aussichten für Stammtischparolen im Schloß Bellevue.
Um Volkes Stimme zu vernehmen, lauscht Heitmann einfach in sich hinein: Die Deutschen müssen ihre Identität gegen die „Überfremdung durch Ausländer“ schützen, Frauen sollen sich mehr auf Mutterschaft als auf ihre Selbstverwirklichung im Beruf konzentrieren, da „unsere seit Jahrtausenden männlich bestimmten Strukturen nicht einfach von Frauen ausgefüllt werden können“; und schließlich sei der Zeitpunkt gekommen, die Schrecken des Nationalsozialismus einschließlich der sechs Millionen ermordeten Juden historisch in die Gesamtgeschichte des Volkes einzuordnen. Eine Sonderrolle Deutschlands sei daraus nicht abzuleiten.
Stolz ist der „Sachse aus Überzeugung“, solche heißen Eisen in den dünnlippigen Mund genommen zu haben, und sicher, daß man es ihm danken wird. Und tatsächlich: Seit seinen Bekenntnissen bekommt er täglich Fanpost – von begeisterten Rechtsradikalen, die ihn von ganzem Herzen beglückwünschen zu seiner gesunden, deutsch- nationalen Denke.
Das entsetzt den Kandidaten. Alles ein Mißverständnis, gesteht er Ignatz Bubis bei ihrem zweiten Treffen am Mittwoch vergangener Woche in Berlin. Zuvor hatte der Zentralratsvorsitzende der Juden Deutschlands den Sachsen kritisiert, seine Aussagen seien geeignet, Rechtsradikalen neue Argumente zu liefern. Verschreckt verabredete Heitmann ein Treffen, doch vor lauter Aufregung verpaßte der Pünktlichkeitsfanatiker sein Flugzeug. Als er landete, hatte Bubis nur noch zehn Minuten Zeit für den Bundespräsidenten in spe. Zu kurz für Vergebung, Bubis blieb bei seiner Kritik.
Rapport Nummer zwei war besser vorbereitet: Eineinhalb Stunden sprach der Kandidat mit dem Juden. Mit seinen Äußerungen wollte er doch nur zur Entideologisierung der Diskussion beitragen, dabei dürften Themen nicht tabu sein. Ergebnis der Unterredung: Beide trennten sich freundlich, die Meinungsverschiedenheiten blieben jedoch.
Damit reihte sich Ignatz Bubis ein in die lange Schlange derer, die die ehrbaren Motive des guten Menschen aus Dresden nicht für ausreichend erachten. Das Spießrutenlaufen, genannt Kandidatenkür, zu der Heiner Geißler Kohls unbekannten Wunschkandidaten nach dessen Verlautbarungen zwang, wurde zu einer Serie von Niederlagen. Bis auf eine Ausnahme: Die CSU in Bayern begrüßt freudig den Law-and-Order- Mann, der mittels schärferer Gesetze Moral und Werte in die außer Rand und Band geratene Gesellschaft zurückholen will. Trotzig bieten die Bayern den Kritikern die Stirn: „Das allgemeine Trommelfeuer ist ein sicheres Zeichen dafür, daß er für uns der Richtige ist“, sagt die frühere Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner.
Dagegen empfindet die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Ursula Engelen-Kefer, den Kandidaten als „eine Zumutung“. Auch die PDS, selbsternannte Hüterin der Interessen Ost, will „keinen frauenfeindlichen Alibi-Ossi“, und Alice Schwarzers Emma kürte Heitmann zum Frauenfeind des Sommers. Selbst im Osten Deutschlands mangelt es an Solidarität mit dem Ostdeutschen. In Dresden kursiert derweil der schlichte Witz: Geht einer zum Heitmann und sagt: „Sie sind ein Nobody.“ Lacht der freundlich und sagt: „Entschuldigen Sie, ich kann kein Englisch.“
Beschämend findet es Reinhard Höppner, SPD-Oppositionsführer im Landtag von Sachsen-Anhalt, wenn der Bundeskanzler den Eindruck erwecke, bei einem Ostdeutschen müssen die Maßstäbe etwas niedriger gesetzt werden: „Heitmann ist der versprochene Hut drei Nummern zu groß.“
Selbst Heitmanns Dienstherr in Dresden, Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, favorisierte den SPD- Kandidaten Johannes Rau, bevor er – und mit ihm die gesamte CDU-Führungsriege – von Kanzler Kohl zur Ordnung gerufen wurde. So beklatschten die Delegierten des Berliner Parteitages artig den Anwärter. Zur Belohnng mußten sie ihn nur sympathisch finden, nicht aber nominieren.
Doch hinter den Kulissen knirschen Zähne. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth soll äußert erbost gewesen sein, nach Heitmanns Vorstellungsgespräch bei der CDU-Frauenfraktion. Auch die FDP ist aufgeschreckt. Händeringend sucht man nach einer neuen Kandidatin, um dem Koalitionskrach zu entgehen. Für die Liberalen ist der erzkonservative Heitmann unwählbar.
Ein echtes Dilemma für den Kandidaten, und nur, weil er sich einfach nicht verstellen kann. Welch ein Fiasko für einen Politiker, nur sagen zu können, wofür er wirklich steht!
Zwanghaft ehrlich präsentiert sich der 48jährige, ein rühriger Versuch, sich Profil und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Doch die Legende gehört zur Taktik des Emporkömmlings. Bevor er als Kandidat ins Gespräch kam, fand der eher gehemmte Justizminister überlegtere Worte. In seiner Rede beim „2. Bautzen Forum“ der Friedrich-Ebert-Stiftung im April 1991 sprach der Mann, der heute den Nationalsozialismus als „geschichtlichen Prozeß“ einordnen will, von den Gefahren der Verdrängung und dem Respekt vor den Opfern: „Denken Sie an die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit nach 1945.“ Mit der Stasi- Geschichte der DDR sollte dies nicht geschehen: „Die Vergangenheit muß mit ihrer ganzen Schicksalhaftigkeit angenommen werden, wenn wir unseren Blick in die Zukunft richten wollen.“
Auch sein Frauenbild war damals noch freundlicher. Anläßlich einer Tagung in Dresden antwortete er einem Teilnehmer auf die Frage, warum weniger Frauen Mitarbeiter der Staatssicherheit waren als Männer: „Frauen lassen sich nicht so leicht instrumentalisieren wie Männer. Sie können sich dem Druck geschickter entziehen. Da sind sie überlegen.“
Woher aber kommt die wundersame Wandlung des grundgesetzgläubigen Wertkonservativen („Wir Ostdeutsche sind dem Grundgesetz beigetreten und basteln nicht daran herum“) zum Rechtsaußen? Weil – der Verdacht liegt nahe – Kohl es so will. Bringt er seinen Kandidaten durch, hofft er im Wahljahr 1994 auf die Stimmen der Rechtsgerichteten. „Das ist die tiefste Form der Verachtung des Kanzlers für die Ex-DDR“, wettert die Ostberliner Wochenpost, „die Drecksarbeit will er sich von einem aus dem Osten erledigen lassen.“ Fällt Heitmann durch oder tritt er vorzeitig ab, kann Kohl behaupten, einen Ostdeutschen vorgeschlagen zu haben, an dessen Niederlage der politische Gegner schuld ist. Der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble bereitet dafür bereits den Boden, wenn er von einer ungeheuren Verleumdungskampagne spricht.
In beiden Fällen ist Steffen Heitmann willfähriges Instrument Kohls. Nachdem er zweimal quergeschlagen war – einmal kritisierte er Kohls Lieblingskind, die Europapolitik, als von oben her verordnet, dann gab er eigenmächtig Interviews –, akzeptierte der unerfahrene Polit-Anfänger einen Maulkorb. Keine Interviews mehr, der Kandidat muß erst getrimmt werden. Jetzt bekommt er einen gewieften Manager zur Seite gestellt – eine Art Bauchredner, zu dem er nur noch die Lippen zu bewegen braucht, damit wirklich nichts mehr schiefgehen kann.
Heitmann, der Auserkorene, fügt sich, zu märchenhaft sind die Aussichten des ehemaligen Waisenkindes. „Ich war nie ein Held“, gibt er zu. Um so wundersamer empfindet er seine steile Karriere.
Klug hat Kohl seinen Saubermann ausgesucht. Er wählte einen Mann, der gar nichts getan hat, weder für den Staat noch für die Opposition. Theologie und Altphilologie hat der 1944 in Dresden Geborene studiert, wegen seines nur mittelmäßigen Abiturs. Später stieg er auf zum Kirchenjurist, arbeitete im evangelischen Landeskirchenamt und übernahm 1982 die Leitung des Dresdener Bezirkskirchenamtes. Er heiratete die Malerin Christine Heitmann und hat zwei Kinder. Im Herbst 1989 beriet er die oppositionelle „Gruppe der 20“ auf deren Bitte hin.
Dann begann das Wunder: Biedenkopf machte den parteilosen Kirchenrechtler 1990 trotz mangelnder Qualifikation zum sächsischen Justizminister. Dankbar vergab der treue Gefolgsmann die Posten meist an Westler. Als Ende 1991 die Blockflöten aus der Partei gedrängt wurden, trat Heitmann den Christdemokraten bei.
Der verklemmte Mann, der die Sachebene ebenso liebt wie die Registratur, entwickelte einen fanatischen Drang, Stasi-Mitarbeiter („Mir kann kein Ossi was vormachen“) zu verfolgen. Als sich der belastete ehemalige Landtagsabgeordnete Schicke umbrachte, empfand er dies als einen „ganz normalen Prozeß“, ebenso wie die gesellschaftliche Ächtung der Kinder von Stasi-Spitzeln.
Ein solch entschiedenes Engagement hätte sich der Chemnitzer Studentenpfarrer Hans-Jochen Vogel vorher gewünscht. 1975 bat er Heitmann, Dezernent im Landeskirchenrat, sich für vier evangelische Studenten einzusetzen. Sie hatten Biermann-Platten und Westradio gehört und oppositionelle Schriften – Orwells „1984“ – gelesen. Die Stasi drohte mit Exmatrikulation. Heitmanns Reaktion: „Wer sich an die Grenzen der Staatsraison wagt, muß die Konsequenzen in Kauf nehmen.“
„Der machte nur Dienst nach Vorschrift“, sagt Hans-Jochen Vogel. „Ein reiner Verwaltungsmensch mit Angst vor der Stasi.“ Auch später, als Heitmann in der Verfassungskommission saß, wurde Vogel entäuscht: „Anstatt die einmalige Chance zu nutzen, hat er kritiklos das Bundesrecht übernommen. Das war beschämend. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Sachsen jetzt mit erhobenerem Haupt gehen, weil er einer der Ihren ist.“
In der Kirche, meint Vogel, hat Heitmann nichts mehr verloren. „Mit unserem Glauben ist nämlich weder Rassismus vereinbar, noch eine Ethik, für die Selbstmord „ein ganz normaler Prozeß“ ist.
Am 23. Mai 1994 entscheidet die Bundesversammlung über den neuen Präsidenten. Pikanterweise kann die CDU/CSU ihren Kandidaten nicht im Alleingang durchpauken. Ihren 621 Stimmen stehen die 500 der SPD, 114 der FDP und 89 andere gegenüber.
Bleibt der fromme Wunsch des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber: „Ich hoffe, daß Herrn Heitmann in seiner Offenheit Gerechtigkeit widerfährt.“
Das hoffen mittlerweile auch seine Gegner.
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