"Unter uns ist der Mörder nicht"

■ Der erschossene Anwalt Hans-Jürgen Lethgau versetzte eine ganze Siedlung bei Potsdam in Angst und Schrecken / Als Liquidator einer erloschenen Gesellschaft erhob er Ansprüche auf sämtliche Grundstücke

Die bunten Blätter in den hohen Bäumen rauschen im Wind. Irgendwo krächzt ein Eichelhäher, es riecht nach Kiefern und nassem Laub. Doch die Herbstidylle trügt: In der 400-Seelen-Siedlung „Wildpark West“ an der Havel geht die Angst um. Angst vor den Alteigentümern, die auf 80 Prozent der Grundstücke in dem Waldgebiet Rückübertragungsansprüche erheben. „Die Stimmung hier“, so sagt der Rentner M., „ist äußerst mies.“

Alteigentümer in Wildpark- West war auch der Düsseldorfer Anwalt Hans-Jürgen Lethgau. Doch der 56jährige Mann lebt nicht mehr. Er wurde vor eineinhalb Wochen gegen 9.30 Uhr morgens im Treppenflur eines Geschäftshauses am Kurfürstendamm 220 erschossen. Der unbekannte Täter war über den Terminkalender des Anwalts offensichtlich genauestens unterrichtet gewesen: Am Tag vor seinem Tod war Lethgau von Düsseldorf nach Potsdam gekommen und dort im Hotel Cecilienhof abgestiegen. Am Abend desselben Tages hatte er das nicht weit entfernte Dorf Wildpark West aufgesucht und dort, wie häufig zuvor, in der Angler-Klause ein Bier und einen Korn getrunken. – Freunde hatte Lethgau in der Siedlung an der Havel nicht. „Er trat hier so auf, als würde ihm ganz Wildpark West gehören“, erzählt Rentner M. Tatsächlich hatte der Düsseldorfer Anwalt Ansprüche auf den gesamten Ort erhoben, als er 1990 zum ersten Mal beim zuständigen Amt Schwielosee aufkreuzte. „Er beantragte die gesamten 700 bebauten und nicht bebauten Parzellen“, erinnert sich der zuständige Amtsleiter Peter Wulf. „Er wollte gegen den Willen der Gemeinde Häuser bauen, die nicht in die Siedlung paßten.“ Später habe Lethgau „nur noch“ sechs Familiengrundstücke zurückverlangt sowie 146 Parzellen, die einmal einer sogenannten „Märkischen Wochenend Gesellschaft“ gehört hatten.

Wildpark West war früher ein reines Waldgebiet. Es gehörte den Hohenzollern, die dort auf die Jagd gingen. Nach der Abdankung Wilhelms II. wechselte das Grundstück nach einer Entschädigung den Eigentümer. Es ging an die Märkische Wochenend Gesellschaft (MWG), die das Waldgebiet unterteilte und die Parzellen zum Teil an Berliner Bürger veräußerte. Lethgaus Mutter soll Gesellschafterin in der MWG gewesen sein. 1951/52 wurde die MWG von der DDR enteignet und ihre Grundstücke der Landeshauptstadt Potsdam übertragen. Diese vermietete und verpachtete die Parzellen in Wildpark West an DDR-Bürger, darunter auch etliche Stasi-Mitarbeiter.

Dann kam die Wende. Der Modrow-Erlaß ermöglichte einigen Pächtern, ihre bis dahin volkseigene Parzelle für billiges Geld – 2,50 Mark bis 60 Mark pro Quadratmeter – zu kaufen. 1990 traten die Alteigentümer an. Als erster forderte Prinz Louis Ferdinand von Hohenzollern das Waldgebiet zurück, sein Antrag wurde vom Amt für offene Vermögensfragen jedoch abschlägig beschieden. „Wir hatten kaum Luft geholt, da kam Lethgau“, erinnert sich Amtsleiter Wulf. Lethgau hatte sich vom Amtsgericht Charlottenburg als Vermögensliqidator der MWG bestellen lassen, um das bereits erloschene Gesellschaftsvermögen zum Zwecke der Vermarktung zu reaktivieren. Warum das Gericht Lethgau zum Liquidator bestellt hat, so Wulf, „ist uns absolut unverständlich“. Tatsächlich hat das Amtsgericht mit dieser Bestallung ermöglicht, daß Lethgau in Wildpark West seine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen und das ganze Dorf in Angst und Schrecken versetzen konnte. Im Havelboten vom April 1992 beschrieben dies zwei Anwohner so: Die Bedrohung durch Alteigentümer und ihre Rechtsanwälte „hat ein unerträgliches Maß angenommen. Wann ist endlich Schluß mit diesem Terror gegenüber unbescholtenen Bürgern, die sich im Rentenalter befinden und nach hartem Arbeitsleben in Frieden ihren Lebensabend verbringen wollen?“

„Hans-Jürgen Lethgau war ein eleganter, arroganter Typ“ erzählt der Rentner M. „Er kam meist im Mercedes und ist dann zu Fuß mit seinem Funktelefon in der Hand die Straße rauf und runter gerannt, damit auch jeder von uns sieht, daß er eins hat.“ Der Anwalt sei immer sehr fordernd aufgetreten: „In einem viertel bis halben Jahr seit ihr hier runter“, habe er den Parzellen-Nutzern gedroht. Die meisten seiner Familiengrundstücke habe er sehr schnell zurückbekommen, weil sich die Pächter „bestechen ließen“. Die Gebäude wurden sofort danach abgerissen. „Die anderen hat er versucht einzuschüchtern, indem er unerschwingliche Summen für die Grundstücke verlangte.“ Von einem Anwohner habe Lethgau mehrere hunderttausend Mark Pacht im Jahr für eine rund 400 Quadratmeter große Parzelle gefordert, bestätigt auch Amtsleiter Wulf. Dem Betroffenen sei es jedoch gelungen, die Forderung mit einem Gerichtsbeschluß abzuwehren.

Die Leute in Wildpark West seien zwar ganz schön fertig mit den Nerven, aber „unter uns ist der Mörder nicht zu suchen“, ist der Rentner M. überzeugt. „Hier könnte keiner einen Killer bezahlen.“ Sein Tip ist vielmehr, daß ein anderer „Immobilienhai oder Anwalt“ Lethgau nach dem Leben trachtete: „Die spielen sich doch gegenseitig aus.“ Besonders bedauert werde sein Tod in Wildpark West aber nicht. „Man könnte sagen, da hat die Gerechtigkeit zugeschlagen. Der einzige Vorteil ist, daß die Leute hier viellleicht nicht ganz so schnell rausmüssen.“ Amtsleiter Wulf ist da anderer Meinung: Nun dauere es noch länger, bis die Eigentumsverhältnisse in Wildpark West geklärt seien, weil nun wieder alles von vorn losgehe. Für die Anwohner bedeute dies weiterhin Unsicherheit, der Gemeinde seien die Hände gebunden. „Wir würden die verbleibenden Flächen am liebsten neu parzellieren und billig an die Leute verkaufen.“

Unterdessen hat der Polizeipräsident 10.000 Mark Belohung für die Aufklärung der Tat ausgesetzt. Die Ermittlungen erstrecken sich sowohl auf Lethgaus Geschäfte wie auf sein Privatleben und wurden inzwischen nach Düsseldorf ausgedehnt. Alles ist möglich: Frauenheld Lethgau könnte aus Eifersucht ermordet worden sein. Oder ist der Drahtzieher vielleicht doch ein Ex-Stasi-Mann und sitzt in einer Datsche in Wildpark West? Plutonia Plarre