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Die Ideologie ist tot, es lebe der Mensch

■ Wenn die Gewißheit verdampft: Anarchisten diskutieren in Barcelona über die Welt und raten verwirrten Zeitgenossen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen

Barcelona (taz) – Ein Saal, gefüllt mit tausend Leuten jeden Alters und aus sicherlich 20 verschiedenen Ländern, die, ohne einer Partei anzugehören, mehrere Tage hintereinander, mal ernst, mal fröhlich, die grundlegende Veränderung dieser Welt besprechen – allein schon, daß so etwas funktioniert, ist erfreulich. Barcelona war einmal die Hauptstadt des Anarchismus. In diesen Tagen ist die Stadt wieder zum Mittelpunkt dieser Bewegung geworden.

Das Treffen im centre civic im Stadtteil Sants nennt sich „Anarchismus – Internationale Ausstellung“. Der merkwürdige Titel hat damit zu tun, daß es sich bei den sieben Veranstaltern um Stiftungen oder Forschungszentren handelt. Und die hatten es auch in der traditionellen Stadt der Libertären nicht leicht, die entsprechenden Örtlichkeiten für ein Treffen zu finden. 1992 lehnte es die Stadtverwaltung der Olmypiastadt rundheraus ab, den Organisatoren Räume zur Verfügung zu stellen. Jetzt, ein Jahr später, hat man immerhin einen großen und einen kleinen Vortragssaal, ein Zelt, eine improvisierte Bar und eben Ausstellungsfläche gefunden. In diesem Sinn ist der Begriff Ausstellung nicht einmal falsch. Im Vorraum des großen Hörsaals sind viele bunte Tafeln aufgebaut, die über die Geschichte der internationalen anarchistischen Bewegung informieren.

Anarcho-Dino

Freitag, der 1. Oktober, war in Spanien „Dinosauriertag“. An diesem Tag lief im ganzen Land „Jurassic Park“ an – ein Medienereignis, ganz im Gegensatz zu dem Anarchistentreffen, das in der spanischen Presse vollkommen ignoriert wird. Gehört das, was da im centre civic abläuft, trotzdem zum Dino-Tag? Antonio López Campillo, ein ungemein lebhafter, sympathischer, graubärtiger Physiker im Rentenalter, der gerade auf dem Podium zum Thema „Wissenschaft und Anarchismus“ brilliert, hat auch bei den Libertären bisweilen Dinosaurier ausgemacht. Nach seiner Ansicht sind manche der Compañeros irgendwann in ferner Vergangenheit stehengeblieben. Technikfeindlichkeit ist für ihn keine Lösung, trifft nicht den Kern; die Wissenschaft sei kein extraterrestrisches Monster, das ein unfähiges Volk versklave, sie werde von Menschen gemacht und sei deshalb auch von Menschen kontrollierbar.

Was sich da zunächst wie eine bürgerliche Position anhört, wird bei Campillo zur Aufforderung, libertäre Politik den Zeiten anzupassen. „Es gibt keine Retter, wir müssen uns selber retten!“ Wie viele auf den Podien und im Saal hat Campillo Spaß an der Provokation. Seine anarchistische Moral verpflichtet ihn, alles immer wieder in Frage zu stellen – auch die eigenen Überzeugungen. Der Anarchismus lebt von Personen, und das Faszinierende in Barcelona sind deshalb vor allem die einzelnen Persönlichkeiten. Campillo ist nur einer jener angry old men (and women), die man im centre zuhauf treffen kann. Dennoch ist „die Ausstellung“ nichts weniger als ein Veteranenteffen. Das Publikum ist bunt, alle Generationen sind vertreten.

Bei den Grundsatzdebatten zum Thema „Der Anarchismus und die Krise der Ideologien“, die am ersten Wochenende das Treffen bestimmen, dominieren freilich auf dem Podium noch die grauen Haupt- und Barthaare. Die meisten der ReferentInnen sind gestandene Akademiker, Soziologen, Philosophen, Politologen, die ihren Bakunin, ihren Marx, aber auch die aktuellen Debatten ihres Faches kennen. Sie diskutieren über den Staat und die Nation, das Individuum und die Gesellschaft. Gelegentlich wird vor allem bei den Jungen ein Unwillen der allzu akademischen Diskussion gegenüber laut. „Zuviel Credo, zuwenig Anleitung zum Handeln“, wirft man dem Podium vor. Auf der anderen Seite zeigt sich, daß es auch anarchistische Gurus gibt. Einer davon ist Agustin Garcia Calvo, ein Professor der Linguistik aus Madrid. Er ist eine imposante Erscheinung, fast mephistophelisch in seinem Aussehen und Auftreten, ein „Prophet der Negation“, der, wie es scheint, über einen regelrechten Fanclub verfügt. In Spanien ist er wegen seines Grundsatzstreites mit dem Fiskus bekanntgeworden: er weigert sich seit Jahren, eine Steuererklärung abzugeben. In einer Veranstaltung erläutert er seinen Kampf gegen den Staat in einer one-man-show, die zu einem eleganten Diskurs über die Funktion des Geldes in der Gesellschaft wird: Geld, abstrakt wie die Macht, ist für Garcia Calvo das „Opium fürs Volk“ der Gegenwart. So schön wie er trägt das keiner vor.

Ganz anders tritt da José Maria Nunes auf, ein portugiesischer Filmemacher, der seit Jahrzehnten in Barcelona lebt, einer jener liebenswerten Menschen, die den Anarchismus einfach leben und damit die Utopie persönlich greifbar machen. Die Art, wie er zur Eröffnung der Reihe des libertären Kinos in der Filmoteca von Barcelona über die Parallelen von Kino und Anarchismus spricht, hat etwas Herzerfrischendes: Jeder Künstler ist Anarchist und Kino die anarchistischste aller Künste!

Gezeigt wird „El vindicador“ (Der Rächer), ein Film, den Osvaldo Bayer 1989 produziert hat. Es geht um Leben und Sterben des deutschen Anarchisten Kurt Gustav Wilckens, der 1923 den argentinischen General Hector Banigno Valera umbrachte, den „Schlächter von Patagonien“, der 2.000 streikende Arbeiter niedermetzeln ließ. Wilckens fiel später im Gefängnis einem Attentat zum Opfer. Wer weiß in Deutschland, daß damals in Argentinien eine große Zahl von Neugeborenen die ungewöhnlichen Namen Kurt Gustav erhielt?

Libertär und machtlos

Seit dem Spanischen Bürgerkrieg haben sich vermutlich nicht mehr so viele Libertäre aus so vielen Ländern in Barcelona zusammengefunden. Selbst aus Kroatien sind zwei Anarchisten angereist. Ljubo Milicevic, seit Jahren zwischen Paris und Zagreb hin- und herpendelnder Libertärer, will in Barcelona Kontakte für eine geplante Zeitschrift in Kroatien schaffen. Sein Bericht über die Lage in Ex- Jugoslawien holt die traurige Realität zurück. Angesichts der sich etablierenden „Ethnokratien“ befällt die hier Versammelten fast so etwas wie eine Lähmung.

Der Anarchismus heute ist als Bewegung zu schwach, als daß er politisch in die großen Konflikte der Welt entscheidend mit eingreifen könnte. Auch das ist eine Erkenntnis, die in Barcelona viele offen eingestehen. Doch die Welt würde noch trister werden, wenn sie die Anstöße, die libertäre Theorie und Praxis geben kann, völlig ignorieren würde. Thomas Pampuch

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