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Differenzierung statt Stereotypen

■ betr.: „Analität des Bösen“, taz vom 2.10.93

Der ansonsten interessante Artikel von Henryk Broder verliert dort an Wert, wo er von den Deutschen per se spricht.

Verallgemeinerungen wie „eine deutsche Hausfrau, die nicht stolz darauf wäre, daß man von ihrem Küchenboden essen könnte, müßte erst noch geboren werden“, klingen zwar gut, entbehren aber in der proklamierten Allgemeingültigkeit mit Sicherheit jeglicher Grundlage (hier stellt sich die Frage, wie viele Hausfrauen Broder kennt und aus welcher Generation diese sind). Auch wäre es sicherlich verfehlt, bei allen Deutschen einen Reinlichkeitswahn als Abwehr der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit diagnostizieren zu wollen. Zum einen sind die Reinlichkeitsvorstellungen unter den Deutschen bei weitem nicht einheitlich, zum anderen hat partiell bereits eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch in der Ex-DDR stattgefunden (erinnert sei beispielsweise an Jens Reich und die Analysen von J. Maaz), wenn auch zugegebenermaßen nicht auf kollektiver Ebene.

Doch dieses Vermeiden der kollektiven Auseinandersetzung ist kein typisch deutsches Phänomen; sie hat auch in anderen ex-totalitären Systemen kaum stattgefunden, nicht bei den ehemaligen Kolonialmächten, nicht in den ehemals faschistischen Staaten Italien und Spanien, nicht in Japan und in neuerer Zeit auch nicht in Rußland, Polen oder sonstwo. Das alles kann allerdings keine Rechtfertigung dafür sein, daß nicht in Deutschland damit angefangen werden sollte. Insofern hat Broders Artikel auch eine wichtige Funktion.

Ein Grundproblem bei Analysen dieser Art ist es allerdings, daß meist mit pauschalisierenden nationalen Stereotypen argumentiert wird. Dabei hat sich in den Kulturwissenschaften bereits in den 60er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, daß es äußerst problematisch ist, von einer allgemein verbreiteten ethnischen Volksseele auszugehen. Genausowenig, wie es das „deutsche Wesen“ gibt, darf von einem jüdischen, türkischen, amerikanischen o.ä. „Wesen“ gesprochen werden, weil hier individuelle Ausprägungen eingeebnet werden. So einfach, wie wir's oft gerne hätten, sind die Sachverhalte bei genauerem Besehen (leider) meist nicht.

In diesem Sinne wünsche ich mir für – durchaus als notwendig erachtete – Anal-ysen über Deutsche dieselbe Differenziertheit, wie sie in derselben taz wenige Seiten weiter hinten für die interkulturelle Erziehung gefordert wurde: „Differenz statt Stereotypen“. Hans-Peter Hagmann, Freiburg

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