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„Eine intellektuelle Katastrophe ist das Ding allemal“

■ Paragraph 218 und die Lebens wirklichkeit von Frauen

Im Grunde nicht zu fassen, aber wahr: bei der ganzen juristischen Diskussion und sonstigen Motzerei über das Urteil der Karlsruher RichterInnen wurde etwas vergessen. Die Tatsache, daß man „Es“ vergessen hat, spricht für sich. Zugleich ist das Vergessen konsistent mit dem Urteil. [...] Es sind ganz einfach die Frauen und ihre Lebenswirklichkeit, die man vergessen hat. Vergessen.

[...] Was mich begeistert, ist die Bestätigung über meine Theorie der zunehmenden Misanthropie in deutlicher Kovariation mit Unterwürfigkeit. Ich meine dabei nicht das Urteil. Ich spreche von den Reaktionen. Wie überaus behutsam und zierlich die Richter behandelt werden! Selbst in der taz kommt Herr Mahrenholz ungeschoren davon. Niemand spricht Tacheles! Keiner fragt in grob schopenhauerscher Weise: „Ja, glaubt ihr denn, ich sei hier das rechte Publikum für solch ,Altweibergeschwätz‘?“

Nein, das fragt niemand. Die FDP legt sogar einen Entwurf vor, der diese auf den Kopf gestellte, verquere „Logik“ auch noch ernst nimmt; anstatt sich gegen die Grenzüberschreitungen zu wehren: Wo ist die Gewaltenteilung geblieben? Wieso gehen die VertreterInnen des Volkes auf die Begründungen – und damit auf die „Philosophie“ der Unsäglichkeit – des BVerfG ein, wo diese doch gar nicht für sie verbindlich sind? Wer ist hier eigentlich der Gesetzgeber?

Lieber befassen die gewählten VertreterInnen sich also – indem sie damit noch freiwillig in den schwarzen Tunnel der nicht bewältigten Vergangenheit der katholischen Kirche hinabsteigen – mit sogenannten Details! Vorgaben für die staatliche Zwangsbelehrung, schamlos „Beratung“ genannt, werden jetzt (im Herbst 1993) von einigen Abgeordneten „umgesetzt“. Seit wann kann man paradoxe Kommunikation „umsetzen“? [...] Wir PschologInnen können fast dankbar sein, denn die Frage, „Wie manövriere ich Frauen am geschicktesten in eine ,Double-bind‘-Situation?“, ist jetzt endgültig beantwortet: Die ergebnisoffene, zielgerichtete Beratung, in der von Frauen – ohne Zwang zur Mitwirkung – erwartet wird, daß sie sich an der Lösungssuche beteiligen; in der man sich – ohne Belehrung, Einschüchterung oder Bevormundung – vergewissert, ob die Frau weiß, daß das Ungeborene auch ihr gegenüber ein Recht auf Leben hat; in der man – mit Achtung vor Frauen – davon ausgehen darf, daß Frauen zu verantwortlichen Entscheidungen in der Lage sind, jedoch bei etwa vorhandenen Fehlvorstellungen Korrekturen machen müssen, indem man es ihnen verständlicher Weise erklärt; in der man schließlich und endlich normative Vorstellungen und Werthaltungen einfließen lassen soll; und so weiter. Diese „Beratung“ kann nur schizophren werden? „Das Rechtsbewußtsein wird durch widersprüchliche rechtliche Bewertungen verunsichert“, heißt es auf Seite 105 im Urteil. Wie wahr.

Die Frauenverachtung – angefangen von den Leitlinien bis zum Schluß – ist so überdeutlich, daß einem zunächst die Spucke wegbleibt. Unterstellung wird an Unterstellung gereiht, bis Verleumdung und Diffamierung beinah normal scheinen. Kinder (das sind auch eingenistete Eier) müssen gegenüber Schwangeren geschützt werden, denn sie könnten sie unbemerkt töten! Das muß man/frau sich einmal wirklich vorstellen: solche Unterstellungen stehen haufenweise in dem Urteil drin. Davon gehen sie aus und leiten dann ihre „Vorschläge“ davon ab. [...]

Die Grundrechte von Frauen greifen gegenüber dem Nasciturus (der zu Gebärende!) nicht durch! (Das steht da alles; wirklich!) Wir Frauen haben die Rechtspflicht zum Austragen. [...] Da einige von uns das nicht einsehen, müssen via Unwerturteil „Rechtswidrigkeit plus Kostenübernahme“ die lebendigen Wertvorstellungen im Volke durch eine derartige Urteilsverhängung wieder gestärkt werden. Auf dem Rücken der Frauen hat man so manches gestärkt ...

Wie können diese Leute es wagen, so zu sprechen? [...] Würde mich jemand direkt, von Angesicht zu Angesicht auf solche Weise ansprechen, wie es das BVerfG auf indirekte Weise tut, so würde ich ihm (meine ganze Erziehung dem „Übermaßverbot“ anvertrauend) eine schallende Ohrfeige verpassen! Eine verdiente Ohrfeige wäre das allemal.

Über dem BVerfG schwebt angeblich „der blaue Himmel“. Es wird Zeit, die Herren darauf aufmerksam zu machen, daß der Europäische Gerichtshof nicht schwebt, sondern seinen Sitz in Luxemburg hat, und daß das BVerfG selbst schwebt – in Gestalt eines Damoklesschwertes für Frauen; oh ja, und auch für Männer, denn das Urteil wird die Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern noch stärker auseinanderdriften lassen als bisher.

Wie ärgerlich ist es, wenn Artikel um Artikel erscheint, in dem lediglich auf „die Bayern“ losgegangen wird. Albern! Gelobt seien diese, nehmen sie doch das Urteil mitsamt dem, was zwischen den Zeilen steht (Frauenbild!) einfach nur ernst. Die angebliche Unsäglichkeit der bayerischen Vorschläge und Forderungen ist mit dem, was im Urteil zu finden ist, ziemlich kompatibel. Allerdings: Das Urteil ist nur da verbindlich, wo das BVerfG seine „Hausaufgaben“ erledigt hat. Leitlinien und Begründungen gehören nicht dazu! Weiß das die FDP nicht? Was ist mit der Übergangsregelung bezüglich „Strafbarkeit“ für die ostdeutschen Frauen? Ist sie überhaupt rechtmäßig? Was ist mit dem Grundgesetz? Wurde nicht (allein schon durch die Wirklichkeit schaffende Sprache!) gegen die Würde des (weiblichen) Menschen verstoßen? Was ist mit der Würde des sogenannten geschädigten Fetus? Hat er/sie keine? Was ist mit den sogenannten ausländischen Frauen? Wieso taucht ihre Lebenswirklichkeit nicht auf? Was ist mit vergewaltigten Frauen, mit sexuell mißbrauchten Mädchen? Hat jemand Expertinnen angehört zu den Folgen des Urteils? Tausend Fragen offen!

Wie auch immer. Das Urteil und die nachträgliche Diskussion zeigen, wie man/frau eine historische Chance verpassen kann. Konzepte aus dem Frühmittelalter – wie „Rechtsgüterkollision“ (Thomas von Aquin, Anf. 13. Jh.) – wurden erneut übernommen, also nicht reflektiert. Eine intellektuelle Katastrophe ist das Ding allemal.

Erneut siegten auch die Interessengemeinschaften, die Frauen als Untermenschen, als Gefäße, als zu kontrollierende Produktionsstätten u.v.m. in ihren verdrehten Neutronenschaltungen hardwaremäßig programmiert haben. Denen ist nicht mehr zu helfen; aber wir Frauen müssen uns endlich selbst helfen! Auch die „Halber Sieg“- Argumentation ist für uns jüngere Frauen nicht akzeptabel. Wir wollen diese Wertungen, die von einem eindeutig männlichen Sollwert ausgehen, nicht mehr. Diese Kalibrierung auf das „Es hätte noch schlimmer kommen können“ ist für uns auch nicht mehr akzeptabel; sie ist nichts weiter als eine implizite Akzeptanz der androzentrischen Sicht auf die Welt. Nein, das wollen wir nicht (mehr). Monika Gerstendörfer,

Dipl.-Psych., Metzingen

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