: Küss' die Hand, gnä' Frau
Im Erbe der Monarchie schützen noch immer weiße Glacéhandschuhe vor dem „neuen Grobianismus“/ Großzügiger Umgang mit Formen kann durchaus gewinnbringend sein ■ Aus Wien Hazel Rosenstrauch
„Der große Elmayer ist gerade nicht da, kommt aber sicher bald wieder“, sagt die Buchhändlerin, aber häufige Nachfrage kann sie mir nicht bestätigen. Ich begnüge mich mit dem kleinen Elmayer, denn Benimm in Wien wird hier mit Elmayer assoziiert, und Elmayer ist etwas anderes als Regeln, die sich anziehen lassen wie Lacoste-Hemdchen. Das hat noch mit Formen zu tun, mit Philosophie und Herzensbildung und ist der Name eines adligen Rittmeisters der Kavallerie, der 1919 jene Tanzschule aufgemacht hat, in die auch klein- und kleinstbürgerliche Wiener Familien ihre Kinder schickten – nicht primär wegen des Tanzes, sondern zur Vervollkommnung der Erziehung. Nach so einem Kurs war frau und man reif für jedweden Ball der Saison. Das ist Vorgeschichte, tief in die Erinnerung mehrerer Generationen von Wiener Mäderln und Buben eingeritzt.
Schon beim Blick auf den Buchrücken werde ich aus dem Sinnieren über gewisse Vorteile erhaltener alter Sitten gerissen. Es stimmt schon, daß hierzulande die Chance, die Schwingtür ins Gesicht geknallt zu kriegen, geringer ist. Aber spezifisch österreichisch dürfte auch sein, daß der Verfasser des Büchleins, Nachfolger und Erbe jenes Willy Elmayer von Vestenbrugg, auch heute noch stolz auf die militärische Vorgeschichte verweist: Militärakademie, Frankreich- und Rußlandfeldzug; mit Berufung auf Maria Theresia waren sie Offiziere geworden, um aus jungen Menschen „rechtschaffene Männer zu machen“.
Ich wollte berichten, daß in Wien keine neue Mode der Benimmschule nötig sei, weil das, was meine Berliner Freunde den „neuen Grobianismus“ nennen, sich noch nicht durchgesetzt hat. Die „Gnädige Frau“, das Türaufhalten, die Fähigkeit zur (seichten) Konversation, das Hutziehen und gelegentlich auch der Handkuß gehören – im großen und ganzen – zu durchaus noch lebendigen Traditionsbeständen. Sie werden am Leben erhalten und erneuert durch die tschechischen Kellner, die polnischen Professoren oder den slowakischen Ex-Funktionär, der am Nebentisch gerade ein altes Schloß verscherbelt. Eine Dame kleidet sich noch wie eine Dame, geschlechtsneutrales Outfit legt den Verdacht nahe, daß solche Weiber Ausländerinnen sind, und der Sandler (Penner) fragt mich: „Gnädige Frau, hätten's vielleicht a Zigarett'n?“
Der Grat ist oft schmal zwischen der Freude darüber, daß Mitmenschen nicht ihrer bloßen Natur überlassen werden, und dem Preis, der für diese überkommene Ordnung unter Nichtentwurzelten zu zahlen ist. „Jetzt bist scho zwölf Joa und host no immer net gehorchen g'lernt“ auf der einen, viel Bitte, Danke und „darf ich“ auf der anderen Seite – in Wien werden die Formen gewahrt, selbst beim Austeilen von Gemeinheiten.
Norddeutsche KollegInnen sprachen schon vor zehn Jahren mit süffisantem Grinsen von „Rezeremonialisierung“, wann immer altmodische Regeln wie „sich vorstellen“ ausnahmsweise zur Anwendung kamen. Wer einmal einer österreichischen Promotion beiwohnen durfte, wird sämtliche neueingeführten Zeremonien in Deutschland lächerlich puritanisch finden. Der markanteste Unterschied gegenüber jenen Seminaren, die Kontakte, Geschäfte oder Betriebsführung erleichtern, ist das monarchistische Erbe. Die tief bis in die Sozialdemokratie eingewurzelte Titelsucht, Anzug und Krawatte (auch bei linken Veranstaltungen), Partner, die dir den Stuhl zurechtrücken, das „Sie“ und die Anerkennung von Privilegien wurzeln in einer Tradition, die bewahrt und erlernt werden muß.
Es ist mir in Wien noch nicht passiert, daß ein Herr hilflos herumsteht, weil er nichts zu sagen hätte. Man führt Konversation, keineswegs nur über das Wetter. Es geht nicht um Know-how, sondern das Gewußt-wann-und-wo.
Ich finde es durchaus reizvoll, etwas von den hierzulande konservierten Überbleibseln jenen Ländern anzubieten, die das alles längst abgeschafft haben und nun nostalgisch nach einer Re-Installierung von Moral und Familie lechzen, hoffend, daß Ellbogen, Kriminalität, Verwahrlosung und Darwinismus sich domestizieren ließen.
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