„Klagen kann man nie genug“

Mit Kohl und Sekt auf dem Buchmessenparcours: Man feiert sich durch die Rezession / Kleinverlage und edle Reihen gehen ein / Sogar geklaut wird weniger, nur die Sinnfrage stellt sich immer öfter  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Wenn man zum Gelände der Frankfurter Buchmesse kommt, hat man das Gefühl, auf der Zielgeraden eines Autorennens zu sein, und beschleunigt seinen Schritt unwillkürlich. Buchreklamen in allen möglichen Farben sind über die Straße gespannt; am Rande sieht man die haushohe Silhouette eines gebeugten Kunstmannes, der mit einem Hammer irgend etwas bearbeitet. Vor den Toren werden Bücher verramscht, ganz gewaltfrei, denn die „Graswurzelrevolution“ steht auch dabei. Ziellos suchend kreisen Journalisten auf dem Messeareal und finden erst nach Stunden das Pressezentrum. Vor den riesigen Hallen steht seit Jahren die unermüdliche Vorkämpferin der Zeitschrift Der Feminist. An Flohmarktständen werden bunte Hippieklamotten, Haschdosen, Holzflöten, Räucherstäbchen, handgefertigte Jagdmesser („mit kurzer Klinge – damit die Innereien nicht beschädigt werden“) und lustige T-Shirts mit aufgedruckten Romananfängen (man trägt wieder Kafka) verkauft. Tausende eilen geschäftig an den Ständen von 8.463 Ausstellern vorbei, die 350.000 Bücher präsentieren. Der Messeparcours ist mehr als 20 Kilometer lang. Wer interessiert eine Sekunde lang jedes Buch betrachtet, ist ungefähr hundert Stunden lang unterwegs. Ob Genscher, Weizsäcker – der leutselig übermüdeten linken Verlegern hinterrücks auf die Schulter zu klopfen pflegt – oder Kohl bei ihrem Besuch die gesamte Strecke abgelaufen haben, ist nicht bekannt.

Die bisherigen Höhepunkte der Messe sind schnell aufgezählt: Dichter lasen meist in Zehnerpacks in weihevollen Hallen; der hochgejubelte Cees Nooteboom war omnipräsent und verfaßte so etwa die Hälfte aller Messehaupttexte in den Zeitungen; Harry Mulisch ward zu Recht gescholten, daß er seine den Fremdenhaß geißelnde Eröffnungsrede vorab im Spiegel veröffentlicht hatte; Irene Dische, die vor zwei Jahren noch der Star der Buchmesse war, wurde von der FAZ, wie man so sagt, auf einer Seite „geschlachtet“; Herr Schorlemmer lief unendlich eitel mit seinem Friedensbuchpreis durch die Gegend; die amerikanische Dichterin Toni Morrison bekam den Nobelpreis; und eine Weile hielt sich das Gerücht, daß Salman Rushdie die Messe besuchen würde.

So glaubten denn auch KD Wolff und seine Mitarbeiter vom Verlag Stroemfeld/Roter Stern, die mutig mit als erster deutscher Verlag dem verfemten Dichter zur Seite gestanden hatten, daß ER zu ihnen kommen würde, als man ihnen offiziellerweise mitteilte, daß am Nachmittag jemand Wichtiges sie aufsuchen wolle.

Ein anderer kam: Helmut Kohl. Da war die ehemalige Speerspitze der Revolution ziemlich baff, und auch der volkstümelnde Kanzler, der wegen Hölderlin oder auch nur aus bloßer Volkstümlichkeit gekommen war, wußte nicht so ganz, was er sagen sollte, und guckte woanders hin und war erst wieder so ganz bei sich, als er beim Eichborn- Verlag sich selbst als Witzfigur bewundern konnte.

Die Branche ist immer noch angeschlagen – bis zu 45 Prozent stürzten die Umsätze der Verlage und Buchhandlungen im Frühjahr 1992, und nur schüchtern beginnt der Markt sich zu erholen. So ist sie eben, die Rezession auf dem Buchmarkt, und „das hat einfach damit zu tun, daß die Leute weniger Geld haben, weil die Regierung sie ausplündert“, findet der Bremer Nautilus-Verleger Lutz Schulenburg und grinst irgendwie recht begeistert.

Man feiert wenigstens – wie Rowohlt in der noblen „Gesellschaft für Handel und Industrie“ – und gibt sich selbst in den kleineren Verlagen zumindest offiziell recht optimistisch. Denn das Selbstbewußtsein zu verlieren wäre ein tödliches Eingeständnis des eigenen Niedergangs.

Wieso er bei der Buchmesse sei? Man müsse halt die Fassade wahren, meint etwas trauriger Gerd Siebecke vom Hamburger VSA-Verlag, der die fortschrittsgläubigen „Strategien der Arbeiterbewegung“ längst vernachlässigt hat und sich seit ein paar Jahren mit diversen „Zu-Fuß-Reiseführern“ zu profilieren sucht. Wer nicht unter den 8.463 Ausstellern ist, die in diesem Jahr zur Frankfurter Buchmesse gekommen sind, gilt als tot und wird Schwierigkeiten haben zu beweisen, daß er doch in Wirklichkeit quick und munter ist.

Es gibt jedoch auch andere Möglichkeiten, für tot erklärt zu werden. Viele, die Bücher aus der edition Sirene bestellen wollen, bekommen in den Buchhandlungen ein dreistes „Gibt es nicht“ zu hören. Traurig wendet man sich dann ab und verbirgt ein paar Tränen. Die edition Sirene, in der französische Surrealisten, die schönste Lautréamont-Ausgabe und der geniale Tscheche Ladislav Klima im schönsten Bleisatz erschienen waren, wäre schließlich nicht der erste verdiente Kleinverlag gewesen, den es getroffen hätte: Auch den traditionsreichen Gerhard-Verlag (der in der finstersten Adenauer- Zeit mit Alfred Jarry, Max Ernst, Walter Serner und anderen für Erweckungserlebnisse gesorgt hatte), Galgenberg und andere hatte es kürzlich erwischt.

Doch der Berliner Kleinverleger Wolfgang Schmidt lebt. Zum Beweis winkt er und läßt emsig rauchend auf den messeobligatorischen Sekt einen Rotwein folgen. Zwar hat er es geschafft, auch in diesem Jahr zur Messe mit einem neuen Buch herauszukommen – den seltsam großartig zwischen Genie und Irrsin hin- und herpendelnden „Postmortalien“ des surrealistischen Kafka-Zeitgenossen Klima –, doch es sieht schlecht aus. Die Rezession auf dem Buchmarkt trifft die Kleinverleger, die an einem anspruchsvollen Minderheitenprogramm festhalten, doppelt und dreifach.

Weil die Buchhandlungen versuchen, ihr Sortiment so zu halten, daß es der breiten Nachfrage möglichst genau entspricht, weil es den Verlagen inzwischen gelungen ist, „den Fernsehschrott durch Bücherschrott zu unterbieten“ (Zeit) und damit die Regale vollzustopfen, sind Titel, die eine längere Umschlagzeit haben, kaum noch präsent. Auch die Barsortimente nehmen keine Titel auf, die lange das Lager verstopfen.

Und die Buchhandlungen gehen währenddessen „aus Bequemlichkeit dazu über, nur noch Titel zu bestellen, die in den Sortimentkatalogen geführt werden. Für gewöhliche Laufkundschaft schauen die gar nicht mehr im VLB (Verzeichnis lieferbarer Bücher) nach. Wenn Leute nach marginalen Büchern fragen, heißt es dann eben: ,Existiert nicht, kennen wir nicht.‘ Wenn der Käufer das in drei Buchhandlungen hört, gibt er meist auf. Nur der militante Kern schreibt mir dann und fragt, ob es mich noch gibt.“

Während viele Kleinverlage in ihrer Existenz bedroht sind, reagieren die Großen auf Rezession und „Rezessionshysterie“ damit, daß sie anspruchsvolle Reihen eingehen lassen und Bücher mit kleiner Auflagenzahl (als kleine Auflagenzahl gilt bei Taschenbüchern oft schon alles unter 8.000) erst gar nicht mehr verlegen. Seltsamerweise scheinen sich die ehemaligen DDR-Verlage von der Depression nicht anstecken zu lassen. „Klagen kann man nie genug, aber gucken Sie sich doch mal unseren Stand an“, sagt stolz Frau Röntsch vom Mitteldeutschen Verlag, der seine literarischen Risikogeschäfte mit Städtebildern, Behördenverzeichnissen aufzufangen versucht. Birgit Peter, die Cheflektorin von Reclam Leipzig, verweist stolz darauf, daß sich für sie das Risiko, das sie beispielsweise mit der Veröffentlichung von Robert Schneiders Debüt „Schlafes Bruder“ eingegangen sei, sehr gelohnt habe. „Die Lizenz konnten wir in acht europäische Länder verkaufen und auch in die Staaten.“ Auch Anke Dewitz vom Aufbau-Verlag ist „eigentlich sehr optimistisch. Wir sind ein Verlag, der seit vier Jahren in der Krise ist, und sind insofern optimistisch, als sich das allmählich ändert. Aufbau wird langsam geschätzt, und daß es uns noch gibt, wird allseits befürwortet, und daß wir ein eigenes Profil haben, wird langsam auch gesehen. Insofern geht es uns ganz gut.“

Nur seine Weimarer Klassikfiliale mußte Aufbau leider schließen. Das ist um so trauriger, als der Ex-Aufbau-Lektor aus Weimar, Konrad Paul, diesmal nicht reimend Stimmung machen konnte („Schnaps und Bier ist gar nicht billig / Müller-Milch macht Mädchen willig“; „Blaue Augen, roter Mund / liebe Freunde, bleibt gesund“).

Mag Frankfurt auch die größte Messe sein – autoren- und publikumsfreundlicher und viel netter geht es doch in Leipzig zu, finden nicht nur die meisten „Ost“-Verlage. Das mag daran liegen, daß man in Frankfurt das Gefühl hat, außerhalb der Stadt in einem Raumschiff zu sein, während die Leipziger Messe in der Innenstadt stattfindet, daß die Frankfurter Lesungen doch ein wenig zu festlich und aufgeblasen zelebriert werden, während sie bei der kleineren Messe zuweilen auch in Kneipen stattfinden; daß sich Frankfurt doch ein wenig zu geschäftig gibt und die zwei Tage, die sich die Messe dem Normalpublikum stellt, wie eine Herablassung wirken.

Doch selbst an der überragenden geschäftlichen Bedeutung von Frankfurt zweifeln einige und winken mit einem kurzen „tidi“ (= turned down, der Titel interessiert mich nicht) ab: „Ich glaube, die Buchmesse ist nur ein Mega- Event, mit dem sich die Branche zelebriert“, meint zum Beispiel die Lektorin eines Großverlages. „Ich glaube, daß die reale Funktion nicht so groß ist. Selbst die Buchhandlungen ordern hier nicht mehr soviel, weil der Messerabatt zu klein ist, als daß es sich für sie noch lohnen würde. Das beschränkt sich meist auf Small talk, Shakehands und ein paar Feiern.“ Viele haben jedoch inzwischen selbst am Feiern die Lust verloren. Traurig, leer und enttäuscht gehen viele Besucher nach Hause. So richtig toll war es doch nicht, am literarischen Betrieb teilgenommen zu haben. Denn „eine gewisse Depression hat sich in den letzen Jahren eingeschlichen.

Es wird kaum noch getauscht, nur noch selten geklaut und überhaupt stellt sich vielen inzwischen die Sinnfrage. Diese Anhäufung an Gedrucktem rührt an die Frage dessen, was übehaupt sinnvoll im Druckmedium produzierbar und konsumierbar ist. Die Frankfurter Buchmesse ist jedenfalls die einzige Woche in einem durchschnittlichen Jahr, in der ich mich nicht für Bücher interessiere. Das geht vielen Kollegen ähnlich“, sagt Wolfgang Schmidt.

Einige sind dennoch begeistert: der „Schnäppchenführer“-Verlag Fink-Kümmerly + Frey, dessen Mitarbeiter bei ein paar Häppchen 800.000 verkaufte Exemplare feierten, die „Tausend legalen Steuertricks“, die ähnlich liegen dürften; Monika Jünemann, die ständig begeistert lachende Esoterikverlegerin vom Windpferd-Verlag (vor allem Edelstein-Therapien und auch „Das Tao des Geldes“), die all denen widerspricht, die ein Ende des Esoterikbooms verkünden: Nein, nein, das werde immer besser und bei der Messe habe sie einige Lizenzen nach „Ungarn, Rumänien, Polen, UdSSR“ verkauft und außerdem sei es sehr schön, die „Zeit miteinander zu verbringen, sich auszutauschen und sich anzulachen“.

Und auch der obligatorische Taxifahrer freute sich sehr: „So gut wie in diesem Jahr war's noch nie“, und „die Buchmesse ist fürs Taxigewerbe mindestens dreimal so gut wie die IAA“.