piwik no script img

Ein Treffpunkt gegen Senioren-Isolation

■ Besuch beim Seniorentreff des Martinsclub / Langfristige Finanzierung noch unklar

Lange betrachtet Karl den Würfel. „Vier!“, sagt er schließlich zweifelnd. „Ja, richtig!“ — Karl darf einen Stein ablegen. Er ist am Sonntag gerade 68 Jahre alt geworden und trifft sich jeden Donnerstag vormittag mit Richard, Heinz, Viola und den anderen. Sie sind alle geistig behindert und haben früher im Martinshof in der Werkstatt Bremen gearbeitet. Seit knapp zwei Jahren werden sie jeden Donnerstag aus ihren verschiedenen Heimen des „Betreuten Wohnens“ ins Sozialzentrum Walle gefahren. Hier wie auch in anderen Stadtteilen hat Sozialarbeiter Gottfried Rosensprung vom Martinsclub e.V. ein „Seniorentreffen“ für ehemalige MitarbeiterInnen der Behindertenwerkstatt organisiert.

Ein bestimmtes Rentenalter läßt sich für geistig Behinderte nicht festlegen, manche scheiden mit 45, andere mit 60 Jahren aus der Werkstatt aus. „Der Eintritt in eine Lebensphase ohne geregelte Arbeitszeiten ist für Menschen mit geistiger Behinderung häufig nur sehr schwer nachvollziehbar. Mit den Treffen wollen wir einer Isolation vorbeugen“, so erklärt Rosensprung die Grundidee des Projekts. Er und eine weitere Sozialarbeiterin trinken Kaffee mit den TeilnehmerInnen; die Behinderten können dann erzählen, was sie seit dem letzen Treffen erlebt haben.

Viola zum Beispiel. Sie ist zwar erst 30 und arbeitet noch im Martinshof, bei der Arbeit aber ist sie total verschlossen und spricht mit niemandem. So nahm Rosensprung sie zu den Treffen mit. Hier taut sie auf und redet gern mit den anderen. Später werden Spiele aufgebaut. Memory, Mensch ärgere dich nicht und andere Spiele, die Rosensprung selbst entwickelt hat. Manchmal macht man auch Ausflüge an die Nordsee oder auf den Freimarkt, im Sommer wird draußen Boccia gespielt.

Doch vor einigen Wochen drohte das Ende für die Seniorentreffen. Rosensprungs ABM- Vertag lief am 30.9. dieses Jahres aus, die weitere Finanzierung war nicht gesichert. Die Sozialsenatorin hatte (für's erste zumindest) ein Einsehen. Aus dem „Lotto- Topf“ können die Treffen voraussichtlich bis Ende dieses Jahres finanziert werden. Für 1994 steht der Martinsclub auf der Projektförderungsliste für den 37-Millionen-Topf, über dessen Verteilung bei den Haushaltsberatungen entschieden wird. „Wenn wir das Projekt jetzt beenden, nächstes Jahr aber doch Geld kommen sollte, wäre es sehr schwierig, so etwas wieder ins Leben zu rufen“, begründete Jochen Eckertz von der Sozialbehörde die Gnadenfrist aus dem Lotto-Topf.

Für Rosensprung und sein Projekt ist das jetzt eine entscheidende Phase. „Wir stehen ungefähr in der Mitte der Prioritätsliste für die Projektfinanzierung nächstes Jahr. Wenn wir es schaffen, berücksichtigt zu werden, wären die Treffen langfristig gesichert“. Erst 50 Jahre nach den „Euthanasie“-Morden des Naziregimes gibt es wieder mehr ältere Behinderte. „Der Bedarf an Projekten für solche Menschen wird sprunghaft ansteigen“, sagt Rosensprung.

Jan Sternberg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen