: Schrottreif!
Atomkraftwerk Ignalina mit tiefen Rissen in den Brennelementkammern ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff
Litauen hat gute Chancen, den ersten Platz auf der Weltrangliste für atomare Gefahren zu erreichen. Bislang galt das Atomkraftwerk Kosloduj in Bulagrien als schlimmer, aber nun haben schwedische Experten in Ignalina, Litauen, mehrere hundert Risse im Rohrsystem und – besonders alarmierend – in den Brennelementkammern des Reaktors entdeckt. Nach einem am Samstag vom schwedischen Rundfunk vorab veröffentlichten Bericht der staatlichen Schwedischen Kernkraftinspektion (SKI) sind viele Risse so groß, daß sich ein Wiederanfahren des zur Zeit abgestellten Blocks Ignalina I verbietet.
Die Expertengruppe hat mehrere Wochen lang Schweißnähte in 1.400 von 1.600 Brennelementkanälen im Reaktorkern mit Spezialgeräten überprüft. Mindestens 230 Schweißnähte waren fehlerhaft, mehr als hundert wiesen Risse von über 15 Millimeter Länge auf. Sie deuten sowohl auf Materialfehler und unzureichende Verarbeitung wie auch auf mangelhafte Wartung hin. Nach Einschätzung des SKI- Direktors Jan H. Nistad dürfte kein schwedisches AKW unter solchen Umständen „auch nur eine Stunde weiterlaufen“.
Denn die festgestellten Risse sind extrem gefährlich: Im Kern jedes Reaktors – Ignalina besitzt zwei graphitmoderierte Siedewasserdruckreaktoren des sowjetischen Tschernobyl-Typs – befinden sich 1601 Brennelementkanäle. Würden auch nur mehr als drei oder vier bersten, würde der Druck im Reaktor so ansteigen, daß auch die restlichen nicht mehr standhalten könnten – um so eher, wenn sie ebenfalls bereits durch Risse geschwächt wären. Darüber hinaus wäre die Gefahr groß, daß dann abreißende Rohre und lose herumfliegende Teile der Brennelemente weitere Röhren beschädigen oder losreißen würden. Es gibt zwar ein „Druckminderungssystem“, das aber nicht mehr als den Überdruck von höchstens drei bis vier berstenden Rohren auffangen könnte. Eine nicht mehr beherrschbare Atomkatastrophe nach Tschernobyl-Beispiel und ungehindertes Entweichen radioaktiven Dampfs wären die Folgen.
Ähnliche Schäden waren von den SKI-Experten im Frühjahr am Reaktor II von Ignalina festgestellt worden. 160 von insgesamt 220 Rissen sollen nach offiziellen Angaben mittlerweile repariert worden sein. Allerdings nicht durch Auswechseln der schadhaften Rohre, sondern durch „Überschweißen“: eine in westlichen AKW nur ausnahmsweise und nie in solchem Umfang angewandte Methode der Reparatur. Die von westlichen Experten seit Jahren, zuletzt auch von der EG-Kommission, wiederholt angemahnte durchgreifende Sanierung des AKW hat nach wie vor nicht stattgefunden, obwohl ausländische Hilfsgelder in Höhe von mehreren Millionen Mark bereitliegen. Litauen weigert sich bislang, die Wien-Konvention zu unterschreiben, die Schadensersatzansprüche im Fall von Reaktorunfällen regelt: aus Angst vor staatlicher Haftung und um Versicherungsprämien zu sparen. Seither zieht keine westliche Firma auch nur eine Schraube fest. Alle Arbeiten müssen vom Personal des AKW selbst erledigt werden. Auch die jetzt fälligen „Umschweißungsarbeiten“ sollen wieder in Eigenregie durchgeführt werden.
Die schwedische SKI führt dennoch zumindest Überwachungsarbeiten durch. Im eigenem Interesse: Ignalina liegt nur 500 Kilometer in vorherrschender Windrichtung vor der schwedischen Küste. Im Rahmen eines von der Regierung in Stockholm zur Verfügung gestellten Hilfsprogramms sollen umgerechnet etwa 30 Millionen Mark bis Mitte nächsten Jahres investiert werden. Um zunächst etwas gegen die seit langem bekannte Brandgefahr im litauischen Schrottreaktor zu unternehmen, hat Schweden in ein neues Sprinklersystem, Sicherheitsschleusen, Alarmanlagen für Feuer- und Gasalarm – die es bislang im gesamten AKW noch nicht gibt! – und Brandschutztüren bezahlt. Alles liegt fein säuberlich verpackt in Lagerhallen, da keine Firma wegen der unklaren Haftungsfrage die neuen Systeme installieren will.
Auch eine Anlage, die ein Leck an den Brennelementkanälen im Reaktorkern der Betriebsmannschaft wenigstens rechtzeitig signalisieren und die für einen wenn auch begrenzten Druckausgleich sorgen würde, hat Stockholm zur Verfügung gestellt. Die Anlage ist bei ABB-Atom speziell für Ignalina entwickelt und gebaut worden. Auch sie liegt seit Monaten versandfertig im Lager.
SKI-Direktor Jan H. Nistad will zumindest „Signale“ erhalten haben, daß sich das litauische Parlament in den „nächsten Monaten“ mit der Haftungsfrage beschäftigen will. Die Reaktoren von Ignalina sind mit einer Leistung von je 1.500 Megawatt die weltweit leistungsstärksten. Litauen ist zu sechzig Prozent seines Elektrizitätsverbrauchs auf das AKW angewiesen.
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