: Ein Tod, der eine heile Welt zerstörte
■ Im Prozeß um Schüsse in der Kreuzberger Szenekneipe "Caf Anfall" ist ein gebürtiger Inder wegen Mordes angeklagt / Ein Gast verblutet, zwei wurden verletzt / Täter soll junge Frau bedrängt haben
Die Ereignisse in der Märznacht haben für die Betreiber der Kreuzberger Szenekneipe „Café Anfall“ die Welt verändert. Bis zu diesem Tag, erinnert sich der 34jährige Richie, war die Kneipe „wie eine Oase“: Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben tranken in dem zehn Jahre alten Szenetreffpunkt in der Geneisenaustraße friedlich ihr Bier. Von Aggressionen und brutalen Umgangsformen, die immer mehr das Berliner Klima bestimmen, war unter den Gästen keine Spur. Heute ist das „Café Anfall“ zwar noch immer eine beliebte multikulturelle Kneipe – aber, so Richie: „Das Bild von der Insel hat Risse bekommen.“
Es geschah am Sonntag, dem 14. März 1993, gegen drei Uhr morgens: Ein Mann stürmte mit gezogener Pistole in das gutbesuchte Lokal und feuerte um sich. Einer der Schüsse durchschlug den Hals eines Gastes, ein anderer traf einen Kellner in den Oberkörper. Auf der Straße verletzte der Täter noch einen Gast, der ihn verfolgt hatte, durch einen Schuß an Hand und Oberarm. Der 30jährige Rolf K., genannt Florian Vogelfrei, starb in der Kneipe kurz darauf an inneren Verblutungen. Der Performer und Mitarbeiter des Berliner R.A.M.M.-Theaters hatte an diesem Abend zufällig im „Café Anfall“, seinem Lieblingslokal, ausgeholfen. Der 27jährige Gast Thomas M. überlebte seine lebensgefährliche Halsverletzung wie durch ein Wunder.
Seit vergangener Woche steht der mutmaßliche Täter vor Gericht: Der 43jährige Maxim P., ein gebürtiger Inder mit deutscher Staatsbürgerschaft. Die Anklage wiegt schwer: Mord, versuchter Mord und versuchter Totschlag. Zu den Vorwürfen hat Maxim P., der in der psychiatrisch-neurologischen Abteilung im Tegeler Knast einsitzt, bislang keine Aussage gemacht. Das Tatmotiv scheint klar zu sein. Es ging um eine Frau.
Als Zeugin vor Gericht schilderte die 18jährige Schülerin Elisabeth H. gestern, daß Maxim P. sie einige Tage vor der Tat auf dem U-Bahnhof Hermannplatz angesprochen und nach Hause begleitet habe. Dabei habe sie erwähnt, daß sie häufiger im „Café Anfall“ verkehre. Nach einer erneuten, scheinbar zufälligen Begegnung habe sie sich mit dem Mann in der Nacht des 14. März zu später Stunde im „Café Anfall“ verabredet. Wie schon zuvor, habe sie ihm eindeutig zu verstehen gegeben, daß sie nicht mit ihm ins Bett zu gehen gedenke. Doch Maxim P. habe seine Annäherungsversuche unverdrossen fortgesetzt – auch nachdem sie sich von ihm verabschiedet und an den Tisch von Freunden gesetzt habe. Schließlich sei ihr Bekannter Thomas M. wütend aufgesprungen, habe mit der Faust auf den Tisch geschlagen und Maxim P. angefahren: „Nun hau endlich ab.“ Erschrocken habe der Mann daraufhin mit einer beschwichtigenden Handbewegung das Lokal verlassen. Kurz darauf sei er mit der Pistole zurückgekommen und habe sofort auf Thomas M. geschossen.
Die aus Garmisch-Partenkirchen stammende Schülerin war damals gerade ein Jahr in Berlin. Sie habe nicht gewußt, wie sie den aufdringlichen Mann loswerden sollte, sagte sie gestern am Rande des Prozesses zur taz. Heute sei ihr bewußt, daß das erneute Treffen ein Fehler gewesen sei, aber sie habe es aus „Menschlichkeit“ getan. Der 27jährige Student Günther L., der von dem flüchtenden Täter auf der Straße verletzt wurde, übt an so einem Verhalten, das er häufig in Szenekneipen beobachtet haben will, ganz offen Kritik: Die meisten Frauen „sagen nie klar, was sie wollen“, wenn sie angemacht oder von Besoffenen vollgequatscht würden. Richie vom „Café Anfall“, der den Angeklagten Maxim P. aus der Szene vom Sehen kennt, hat für die Ereignisse in jener Nacht nur einen Begriff: „Extreme Männerscheiße. Was“, so fragt er sich, „geht in dem Kopf von so einem Typen eigentlich vor, der meint, er habe ein Recht auf diese Frau“?
Der Prozeß wird heute fortgesetzt. Plutonia Plarre
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