: Ein Anruf aus der fernen Edgware Road
Pakistans MQM-Partei gewinnt trotz des Londoner Exils ihres Führers zahlreiche Stimmen ■ Aus Karachi Bernard Imhasly
Wir nennen es Telefon- Wahlkampf“, meint der junge Begleiter lachend, während er uns durch die immer undurchlässigere Menschenmenge in den Straßen von Azizahad führt. Von den Dächern plärrt eine Männerstimme auf sie nieder, deren Timbre seltsam verzerrt wirkt.
Erst als wir über die Menschen gestiegen sind, die im Umkreis des Hauses auf der Straße sitzen und in eines der Zimmer treten, wird die Bedeutung klar: Ein Telefonhörer liegt rücklings auf einem Tisch, und schwarze Mikrofonköpfe starren auf ihn nieder, als beschauten sie eine Leiche. Aus der Hörmuschel ertönt die Stimme von Altaf Hussain, der in diesem Augenblick in einem ebenso kleinbürgerlichen Reihenhaus an der Edgware Road in London vor dem Telefonapparat steht und wohl gestikulierend auf diesen einredet.
Für die Tausenden von Bewohnern Karachis, die in diesem Wahlkampf bereits öfter zum Elternhaus von Altaf Hussain in Azizabad gepilgert sind, ist das einerlei: Sie können ihren Führer zwar nicht sehen, aber das täten sie ohnehin nur aus großer Entfernung. Und niemand stößt sich an den nervösen „Hallo hallo?“-Rufen, mit denen er seine Rede immer wieder unterbricht, wenn ein Knacken im Apparat ihn befürchten läßt, die Leitung sei unterbrochen.
Altaf Hussain redet bereits seit anderthalb Stunden. Doch die Telefonrechnung begleicht der pakistanische Staat. Das ist der Preis, den die Regierung offenbar zu zahlen bereit ist, um sich Altaf Hussain vom Hals zu halten. Vor anderthalb Jahren begab sich der Führer des „Mohajir Qami Movement“ (MQM) zur Behandlung eines Nierenleidens nach London.
Offiziell ist der unscheinbar wirkende, dickliche Mittvierziger, der zur Imageverbesserung immer eine „Ray Ban“-Brille trägt, noch unter ärztlicher Beobachtung. Aber der Grund seiner Abwesenheit hat sich inzwischen geändert: Im Mai 1992 startete die Armee in der ganzen Provinz Sindh eine Säuberungsaktion, deren Zielscheibe die MQM war, der nachgesagt wurde, daß sie politische Gegner und ihre eigenen Kritiker terrorisiere und die Geschäftswelt von Karachi erpresse. Die „Operation Clean-up“ förderte denn auch bald Bilder geheimer unterirdischer Räume an den Tag, in denen Menschen gefoltert worden seien. Für Mustafa Jalil, der uns im Haus Altafs empfängt, ist dies reine Regierungspropaganda. Doch auch dem MQM-Sprecher wird die Ironie der Situation bewußt, als er mit uns irgendwo ruhig sprechen will: Jedes Zimmer im Haus Altaf Hussains ist überfüllt mit Leuten, die schweigend der Rede ihres fernen Führers lauschen. Schließlich führt er uns in ein Nachbarhaus, betätigt dort in einem Bücherregel einen Knopf, der dieses öffnet und eine enge Stiege freilegt, die in ein als Schlafraum benutztes unterirdisches Zimmer führt. Bei Tee und Gebäck erzählt er die Leidensgeschichte der Mohajirs: der Flüchtlinge, die 1947 Indien verlassen haben, um in Karachi am Aufbau des Staates Pakistan mitzuwirken, der neuen Heimat der Muslime des Subkontinents.
In der aufstrebenden Hafenstadt brachten es die meisten zu bescheidenem Wohlstand. Doch statt als Pioniere zu gelten, wurden sie im Laufe der Jahre zu „Outcastes“: In immer enger werdendem Lebensraum der Wirtschaftsmetropole des Landes wurde für die lokalen Sindhis die Zugehörigkeit zu Religion oder Nation nebensächlich. Und Sindh-Politiker wie Zulfiqar Ali Bhutto – der Vater Benazir Bhuttos, deren Partei bei den Wahlen vom Donnerstag und Samstag die meisten Stimmen erzielen würde – sorgten dafür, daß Jobs im öffentlichen Dienst immer mehr an die „Söhne des Bodens“ gingen, daß öffentliche Dienstleistungen immer selektiver wurden und sich die Mohajirs wirtschaftlich und sozial immer mehr bedroht fühlten.
Als Pharmazie-Student gründete Altaf Hussain in den frühen achtziger Jahren das „Mohajir Qami Movement“, das sich zunächst einmal seine Reputation auf der Straße, gegen die Schlägertrupps der anderen Parteien erkämpfte, dann auch auf der politischen Bühne. 1990 gewann das MQM 15 Parlamentssitze – zwölf davon in Karachi – und 30 Prozent der Sitze im Provinzparlament. Es wurde zum Partner in der Koalitionsregierung von Jam Sadiq Ali, die die oppositionelle Pakistan People's Party Benazir Bhuttos bekämpfte. Und es beteiligte sich auch an einer Rachekampagne gegen diese Partei, die schließlich im Mai 1992 die Armee zwang, einzuschreiten. Viele MQM-Mitglieder wurden verhaftet, und Altaf Hussain wurde unter Anklage gestellt, zur Einschüchterung seiner Gegner und parteiinterner Kritiker, kriminelle Methoden angewandt zu haben. Die MQM spaltete sich, die neue, regierungstreue „MQM- Haqiqi“ – „die wahre MQM“ – war aber nicht fähig, die große Mehrheit der Mohajirs von Altaf Hussain abspenstig zu machen.
Das zeigt sich auch wieder an diesem milden Spätsommerabend in Azizabad, als Tausende nach ihrer Arbeit zur Residenz Hussains kommen, weil sie gehört haben, daß er ihnen „eine wichtige Mitteilung“ machen wird. Am Schluß des zweistündigen Telefonanrufs wissen sie es endlich: Das MQM wird die Wahlen vom 6. und 9.Oktober boykottieren. „Bleibt alle zu Hause – stört die Wahlen nicht, aber verweigert eure Stimme!“ Der Schock ist hörbar: Statt dem wilden Klatschen, das die Rede immer wieder unterbrochen hat, ist nur zögernder Applaus zu hören. Erst als einige Aktivisten laut „Boykott, Boykott“ zu skandieren beginnen, bequemt sich die Menge zu gehorsamem Applaus. „Wir sind disziplinierte Menschen“, meint Jalil.
Am Tag darauf verschwinden aus den Quartieren die Parteiflaggen, Hunderte von Papierdrachen – dem von der Wahlkommission zugeteilten Parteisymbol – werden eingeholt, nachdem sie wochenlang über der Stadt geflogen waren. „Die Armee hatte uns zugesichert, daß wir uns ohne Einschränkungen an den Wahlen beteiligen könnten“, ruft Hussain in die Menge. „Doch statt dessen wurden unsere Kandidaten weiterhin von den Haqiqi-Leuten angegriffen, Parteistände wurden in Brand gesteckt, und wir erfuhren, daß die Armee dafür sorgen würde, daß wir lediglich fünf Sitze gewinnen.“
Tags darauf versucht die Regierung, die MQM von ihrem Entschluß abzubringen, denn der Wahlboykott einer populären städtischen Partei – mögen ihre Methoden noch so fragwürdig sein – kratzt das Image einer sauberen und demokratischen Wahl empfindlich an. Auch die großen Parteien drücken ihr Bedauern aus – aber nur als Höflichkeitsgeste. Die Wahlen vom 6.Oktober zeigen, warum: In den Mohajir-Quartieren von Karachi und Hyderabad sinkt die Wahlbeteiligung auf unter zehn Prozent, und die Muslim Liga des Ex-Premierministers Nawaz Sharif und – ausgerechnet – die PPP von Benazir Bhutto tragen ohne Mühe und ohne hohe Stimmenzahlen die MQM-Sitze davon.
Kaum sind die Wahlresultate der ersten Runde bekannt, besinnt sich Altaf Hussain eines besseren: Über die in diesen Tagen ununterbrochen laufende Konferenzschaltung mit London hat die Parteiführung beschlossen, für die zweite Runde – die Wahlen zum Provinzparlament am 9.Oktober –ihren Boykott aufzugeben.
Am Donnerstag nach der Wahl ist Azizabad wieder ausgestorben – mit Ausnahme des Quartiers um das Haus von Altaf Hussain. Die Telefonleitung zur Edgware Road funktioniert, und diesmal mag der „Supremo“ vielleicht sogar die enthusiastische Zustimmung der vielen Zuhörer vor seinem Elternhaus registrieren, obwohl die Sprechmuschel zugeklebt ist, um Interferenzen zu vermeiden.
Trotz der späten Stunde schwärmen die Aktivisten in die Quartiere aus, um die Mohajirs vom Entschluß des Führers zu informieren und die Papierdrachen wieder hervorzuholen; es bleibt nur ein Tag bis zur Provinzwahl.
Die Resultate vom Samstag zeigen, daß Altaf Hussain seine Kampagne auch per Telefon zum Erfolg führen kann: Er gewinnt die große Mehrzahl der Sitze in Karachi und Hyderabad und erzielt 27 von 97 in der gesamten Sindh-Provinz. Die Begründung gibt uns ein Mohajir, der in Malir, einem der Vororte Karachis, bereits kurz nach Schließung der Wahllokale die Siegesfahne schwingt: „Allah ist auch nicht sichtbar, und dennoch verehren wir ihn.“
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