Kein Wort wird inflationärer gebraucht als das zweisilbige Skandal. Ist es einer, wenn Ärzte bei schwarzem Hautkrebs ein Medikament verschreiben, das nur für Viruserkrankungen registriert und zugelassen ist? Pharmafirmen sollen, so der skandalträchtige Vorwurf, medizinische Testreihen an Krebspatienten mit nicht zugelassenen Medikamenten illegal abgerechnet haben. Ahnungslose Krankenkassen sollen so um Hunderte von Millionen Mark geprellt worden sein. Von Dorothee Winden

Pillentests auf AOK-Kosten

Seit etwa vier Jahren sind die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) von einem Pharmahersteller um Millionenbeträge geprellt worden. Erst jetzt ist die Krankenkasse der Firma auf die Schliche gekommmen. Über Jahre hinweg haben Ärzte Patienten, die an schwarzem Hautkrebs litten, das Krebsmittel „Fiblaferon Beta“ auf Kosten der Krankenkasse verschrieben. Die Ärzte haben dabei – wissentlich oder unwissentlich – an einem Medikamentenversuch teilgenommen, der dem Unternehmen nicht nur neue Absatzmöglichkeiten eröffnete. Er lieferte gleichzeitig Erkenntnisse über ein neues Anwendungsgebiet für das Medikament. Denn das Krebsmittel ist vom Bundesgesundheitsamt (BGA) zwar für Fälle von Haarzell–Leukämie zugelassen, nicht aber für andere Anwendungsbereiche.

An sich dürfen Medikamente, die für die Behandlung einer bestimmten Krankheit nicht zugelassen sind, auch nicht über die Kassen abgerechnet werden. Möglich ist dies nur, wenn bei einem Patienten alle anderen Mittel nicht gewirkt haben. Deshalb mußten die Ärzte für jeden Patienten bei den Krankenkassen eine Ausnahmegenehmigung einholen – die in der Regel auch erteilt wurde.

Erst als sich bei einzelnen Ortskrankenkassen die Zahl der Anträge häufte, fielen Ungereimtheiten auf. Nachforschungen der AOK erhärteten die Vermutung, daß hier auf Kosten der Krankenkasse medizinische Testreihen an Patienten vorgenommen wurden. Pro Patient kostete die Behandlung 120.000 Mark. Insgesamt schätzt die AOK den Schaden auf mehrere hundert Millionen Mark.

Der AOK liegt ein Schreiben der Pharmafirma vor, in dem sie Ärzte genauestens darüber informiert habe, wie ein Antrag an die Krankenkasse gestellt werden müsse, damit die Kosten übernommen werden. Ein AOK-Sprecher hat den Verdacht, „daß die Hersteller die Anwendung begleitet haben, daß die Ärzte das Ergebnis der Therapie an die Firma zurückmeldeten“. Von seiten der Firma sei auch auf einzelne Ortskrankenkassen Druck ausgeübt worden, die Kosten für die Behandlung von Patienten zu übernehmen.

Der Pressesprecher und Rechtsanwalt der Firma Rentschler, Ernst-Wilhelm von Wedel, räumte gegenüber der taz ein, daß „seit drei Jahren, wenn nicht länger, eine offene Studie läuft“. Das mittelständische Familienunternehmen mit Sitz in Laupheim bei Ulm hat 500 MitarbeiterInnen und einen Jahresumsatz von 100 Millionen Mark.

Die AOK wirft dem Unternehmen vor, seine Forschungskosten auf die Krankenkasse abgewälzt zu haben. Zumal die Firma nach Ansicht der AOK keine Anstrengungen unternommen hat, um eine Zulassung des Medikaments für Hautkrebs zu erlangen.

Auf die Frage, warum die Firma beim Bundesgesundheitsamt noch keinen Zulassungsantrag gestellt habe, heißt es aus dem Hause Rentschler lapidar: „Weil die klinische Forschung noch nicht so weit ist.“ Die zulassungsrelevante Studie sei jedoch inzwischen eingereicht worden und liege der Ethik- Kommission vor.

„Die Pharmaindustrie versucht, bekannte Substanzen in neue Indikationen zu drücken“, bewertet Ellis Huber, der Vorsitzende der Berliner Ärztekammer, den Pharma-Skandal. Hier werde die Not todkranker Patienten ausgenutzt, um den Markt für ein Medikament zu vergrößern. Der Betrug ist für ihn Folge eines „Systems“, in dem „Gewinnziele“ höher rangierten als Patientenschutz und Humanität. Der Fall mache erneut deutlich, wie hoch der Einfluß der Pharmaindustrie auf ärztliches Handeln ist. Um das Gesundheitswesen vor fremden Interessen zu schützen, sollte jede direkte Kontaktaufnahme zwischen Pharmaunternehmen und Arzt künftig unterbunden werden. „Die Krankenkassen sind bürokratische Kolosse mit Dinosaurier-Syndrom“, kritisiert Huber. Sie würden nicht mehr die Interessen ihrer Patienten vertreten, sondern seien Teil des „medizinisch-industriellen Komplexes“.

Der moralische und psychologische Druck auf Krankenkassen und Ärzte sei immens, wenn bei einem Patienten alle Mittel versagt hätten, heißt es bei der AOK. Soll ein Arzt einem todkranken Patienten eine – noch nicht zugelassene – Behandlungsmethode verweigern, die eine Chance zur Heilung bieten könnte? Und welcher Patient würde eine Behandlungsmethode ausschlagen, die ihm eine letzte Hoffnung bietet?

Nicht nur der Krankenkasse, auch dem Arzt ist daran gelegen, dem Patienten alle verfügbaren Heilungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Immerhin: „Die Patienten sind von ihrem Arzt informiert und beraten worden“, so der AOK-Sprecher.

Für sie besteht auch kein Risiko einer Gesundheitsgefährdung durch das für die Behandlung nicht zugelassene Präparat, so der Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, Michael Wannenmacher. Schließlich sei das Medikament ja generell zugelassen, also auf seine Nebenwirkungen geprüft. Unter Medizinern ist die Wirksamkeit von „Fiblaferon“ bei Hautkrebs allerdings umstritten.

Die AOK erwägt nun, nicht nur eine Strafanzeige gegen die Firma Rentschler zu stellen, sondern fordert auch, daß sie von der pharmazeutischen Industrie über laufende Testreihen informiert wird. Denn nur so lasse sich ausschließen, daß sich ein solcher Fall wiederholt. Doch bislang habe die Pharmaindustrie sich geweigert, die Kassen über klinische Testreihen zu informieren. Die Begründung: Dann würde die Konkurrenz von den laufenden Forschungsprojekten erfahren. Ein Argument, das die AOK nicht gelten lassen will.

Dabei könnte Bundesgesundheitsminister Seehofer etwas nachhelfen und entsprechenden Druck auf die Pharmaindustrie ausüben. Doch offenbar sieht er keinen Handlungsbedarf. Aus dem Ministerium hieß es, der Minister könne im Fall Rentschler nicht selbst tätig werden. Die Kontrollfunktion liege bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Auch den Vorwurf, Minister Seehofer sei bereits im Januar vom Vorsitzenden der Hamburger Krebsgesellschaft, Professor Ulrich Kleeberg, auf den Fall Rentschler aufmerksam gemacht worden und habe nichts unternommen, wies der Sprecher zurück. Selbst wenn Seehofer informiert gewesen sei – was man gegenwärtig nicht nachprüfen könne –, hätte er den Fall lediglich an die Krankenkassen weiterreichen können. In diesem Fall, in dem es um die widerrechtliche Testung von Arzneimitteln gehe, gebe es keinen Grund, nach dem Gesetzgeber zu rufen. Man könne einen Betrug schließlich nicht unterbinden, indem man ihn ein zweites Mal unterbindet.