piwik no script img

Die neue alte Politik des Doktor Vosch

■ Voscheraus „Eckpunkte“ für Rot-Grün: Wirtschaftspolitik im Zentrum    Von Florian Marten

„In den 90er Jahren haben wir es mit grundlegend anderen Aufgaben zu tun als vor der Einheit. Der Industriestaat Deutschland steht vor der schwersten Belastungsprobe seit Gründung der Bundesrepublik.“ Gleich zu Beginn der „Politischen Eckpunkte für Koalitionsverhandlungen SPD/GAL“ formuliert SPD-Verhandlungschef Dr. Henning Voscherau eine hohe Meßlatte für sich selbst: Arbeitslosigkeit, Armut, Verrohung, „Angst vor unkontrollierter Zuwanderung“ und „die besorgniserregende Zuspitzung der Finanzlage der Öffentlichen Haushalte“, so der Stadtchef, „bündeln sich zu einem hohen Anspruch an eine veranwortungsvolle Politik in den 90er Jahren.“

Voscheraus neun Schreibmaschinenseiten mit sieben Eckpunkten und fünf Vorbemerkungen sollen, daran läßt ihr Verfasser keinen Zweifel, als Dokument des einzig erfolgversprechenden Lösungsmodells für die Stadtstaat-Probleme der 90er Jahre gewertet werden. Kleines Problem: Voscherau wird seinem Anspruch nicht gerecht, er hüpft locker unter der eigenen Meßlatte hindurch.

Zentraler Eckpfeiler des Senatschefs ist sein Punkt 1: „Wirtschaft, Hafen und Verkehrsinfrastruktur“. Er enthält den klassischen Katalog einer traditionellen expansiven und subventionsgesteuerten Wachstumspolitik:

1. Ausbau der Infrastruktur (Elbtunnelausbau, Flughafenautobahn, Hafenerweiterung etc.).

2. Großindustriesubvention (Förderung der „Wachstumsindustrien Luft- und Raumfahrt, Bio- und Umwelttechnologie“ (Gentechnik!).

3. Strompreissubventionen für die Metallindustrie (Stahlwerke, Aluminiumwerke, Norddeutsche Affinerie).

Allein die unter 1. genannten Verkehrsprojekte kosten 4 bis 10 Milliarden Mark (je nach zeitlicher Abwicklung und Einbeziehung der Folgekosten).

Regionalökonomen, viele Sozialdemokraten und die Grünen halten diesen Wachtsumpfad für einen katastrophalen Irrweg, der Arbeitsplätze und Umwelt vernichtet sowie die Handlungsfähigkeit der Stadt dramatisch einengt. Ihre Gegen-Argumente:

1. Infrastrukturausbau a la Voscherau ist heute nicht mehr bezahlbar. Er ist als Voraussetzung für intelligentes und verträgliches Wachtum auch gar nicht erforderlich. Durch die Optimierung von Logistik, die Trennung von Wirtschafts- und Privatverkehr (Vorrang für den Wirtschaftsverkehr, Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs) sowie neuartige Konzepte kompakter Nutzung von Gewerbeflächen (Verdichtung im Gewerbebau!) lassen sich moderne Wachstumpfade ansteuern. Der dann erforderliche Infrastrukturaus- und umbau kostet einen winzigen Bruchteil der Voscheraumilliarden.

2. Der Ansatz, „angebotsorientiert“ mit Infrastrukturausbau Investoren zu locken, ist überholt. Nur im Dialog mit Investoren und der Auseinandersetzung mit anderen Stadtfunktionen lassen sich zukunftssichere entwickeln. Engpaß ist hier die Hamburger Verwaltung: Sie ist - mit kleinen Ausnahmen - zu einer modernen dialogorientierten Wirtschaftsentwicklungspolitik nicht in der Lage.

3. Die Förderung von Großindustrien ist eine wirtschaftspolitische Sackgasse. Hamburg kann die Kostenkonkurrenz gegen Südkorea und China nie gewinnen. Die Zukunft gehört dagegen regional vernetzten kleinteiligen industriellen Netzwerken - sie bieten erheblich mehr Arbeitsplätze und eine praktikable Entwicklungsperspektive auf Dauer.

4. Der erste Arbeitsmarkt in der klassischen Form wird den Wohlstand einer Reichtumsregion wie Hamburg nie mehr für alle gleichmäßig garantieren. Die Zukunft gehört hier Konzepten, wie sie beispielsweise die IG-Metall und die Rostocker Beschäftigungsgesellschaft Trägergesellschaft Schiffbau (TGS) unter den Hamburger Sozialdemokraten Frank Teichmüller (IGM-Chef) und Bernd Spies (Ex-Mitarbeiter der Hamburger Arbeitsbehörde in Mecklenburg-Vorpommern vormachen: Eine intelligente Verknüpfung von Arbeitsmarkt-, Technologie- und Sozialpolitik führt da zu bedarfsorientierten und funktionsfähigen Netzwerken mittelständischer Existenzgründungen. Diese Politik kostet einen Bruchteil der Großindustriesubventionen und schafft ein Vielfaches an Arbeitsplätzen.

5. Die Förderung von Aus- und Weiterbildung ist harter Infrastrukturpolitik weit überlegen. Beispiel: Tutoren an der Uni bringen für den Standort Hamburg viel mehr als Lärmschutzwände an neuen Autobahnen.

6. „Weiche Standortfaktoren“ (Lebensqualität, Kultur, sozialer Frieden etc.) sind heute für die Industrieansiedlung weit wichtiger als harte Standortfaktoren. Beispiel: Eine Stadtbahn kombiniert mit einer wirklichen Verkehrswendepolitik ist wirtschaftlich attraktiver als ein paar 1000 Quadratmeter subventionierter Container-Stellfläche in Altenwerder.

7. Energieintensive Industrien wie Affi, Stahl- und Aluwerke haben in Hamburg keine Zukunft (Stahl- und Aluwerke verbrauchen zusammen mehr als 50% des gesamten Hamburger Industriestroms). Die Stadt kann sie nicht auf Jahrzehnte hinaus gegen die Marktwirtschaft subventionieren (mehrere 100 Millionen Mark jährlich über günstigste Stromtarife). Das Geld wäre in zukunftssichere Industrieentwicklung zu stecken und bei der Organisation sanfter Übergänge besser investiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen