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Das Elend der Junkies wird immer größer

■ Die Berliner Drogenpolitik tritt seit Jahren auf der Stelle Experten schätzen die Zahl der Heroinabhängigen auf 8.000

Die abendliche Menschenansammlung auf der Potsdamer Straße erinnert an einen Flüchtlingstreck: Ausgemergelte Gestalten mit zerrissener Kleidung schleppen sich über das Trottoir. Ihre Gesichter sind verwüstet, im Mund haben sie kaum noch Zähne, an den Armen und Beinen schwärende Wunden, die Haare sind voller Läuse. Obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten können, harren sie stundenlang vor Woolworth an der Kurfürstenstraße aus, um Stoff für den nächsten Druck zu erstehen. Die Straßenecke gehörte schon immer zu den einschlägigen Treffs der offenen Drogenszene. Aber daß sich dort an manchen Abenden weit über 100 Junkies einfinden, ist erst seit wenigen Wochen so: seit eine Polizei-Sondereinheit den City- Treffpunkt Breitscheidplatz zerschlug.

Rund um die Potsdamer Straße macht seit geraumer Zeit eine Anwohner-Bürgeriinative gegen alles mobil, was auf der Straße mit Drogen und Prostitution zu tun hat. Manche Hinterhöfe sollen bereits mit Stacheldraht abgesperrt sein. Wenn es nach Innenstaatssekretär Armin Jäger (CDU) geht, wird die Prostitution aus den Wohngebieten der Innenstadt verschwinden (die taz berichtete). Gegen die Drogenszene setzt Jäger die Polizei bereits verstärkt ein: Auf der Potsdamer Straße finden häufig Razzien statt. Als Ziel nennt der Leiter der 1. Rauschgiftinspektion, Rüdiger Engler: Händler beweissicher festzunehmen und das Drogenangebot zu verknappen. Der einzelne Junkie, versichert Engler, sei nicht Gegenstand polizeilichen Interesses. Aber der Begleiteffekt solcher Kontrollen sei nun einmal „eine gewisse Wanderbewegung“ der Szene.

Die Berliner Drogenpolitik tritt seit Jahren auf der Stelle. Schätzungen von Experten zufolge konsumieren hier rund 8.000 Menschen harte Drogen. Die Zahl ist seit Jahren konstant, ebenso wie die Ausbeute der Polizeiaktionen: Von Januar bis Ende August 1992 wurden 15 Kilo Heroin beschlagnahmt, im Vergleichszeitraum war es 1993 ebensoviel. Die Zahl der Drogentoten hingegen ist zur Zeit stark rückläufig: von 217 (1992) auf 96 (Stand: 22. September 93.)

Die Drogenbeauftragte des Senats, Elfriede Koller, ist der Auffassung, daß die Berliner Drogenpolitik ihrem Hauptanliegen gerecht wird, die Szene mit differenzierten Hilfsangeboten zu erreichen. „Das heißt natürlich nicht, daß man nicht noch mehr tun müßte.“ Die Angebotspalette beginnt bei „niederschwelligen“ Einrichtungen wie dem Szeneladen Strass, der weder Cleansein noch Therapieabsicht zur Voraussetzung macht, und endet bei Substitution und Langzeittherapie. Laut Koller befinden sich derzeit 780 Menschen in einem Substitutionsprogramm, jeden Monat würden rund 30 weitere Anträge bewilligt. Alles in allem stehe Berlin „nicht schlechter da“ als die Schweiz und die Niederlande.

Bernd Meinke, langjähriger Streetworker von Strass, dem Szeneladen für Junkies, hat dagegen beobachtet, daß die Zahl der Szenegänger in den letzten drei Jahren deutlich zugenommen hat, die Drogenabhängigen immer jünger werden und die Verelendung auf der Szene immer mehr zunimmt. „Es ist höchste Zeit, Tabula rasa zu machen“, fordert Meinke. Das Drogenhilfssystem müsse von der konventionellen Arbeit (Ziel ist die Drogenfreiheit) hin zur akzeptierenden verändert werden. Dem Junkie, so Meinke, müsse geholfen werden, nicht zu verwahrlosen. Nur so werde er in die Lage versetzt, sich vielleicht auch für ein Leben ohne Drogen zu entscheiden. Voraussetzung dafür sei jedoch, daß man zur Drogenbeschaffung nicht mehr kriminell werden müsse. Sprich, daß das Betäubungsmittelgesetz abgeschafft und eine kontrollierte Abgabe von Heroin an Abhängige ermöglicht werde. Um seinen monatlichen Bedarf an Stoff zu decken, braucht ein Junkie etwa 10.000 bis 15.000 Mark. Doch solange es in Berlin noch nicht einmal „Druckräume“ geben darf, bleiben solche Forderungen wohl Utopie. Plutonia Plarre

Siehe auch Seite 23

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