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Hilfe ohne Krankenschein

■ in der Pankower Wollankstraße werden Wohnungslose, die sonst nicht zum Arzt gehen, kostenlos medizinisch betreut / Obdachlosigkeit kostet zehn Lebensjahre

Trotz der Mittagszeit ist es in dem kleinen Raum unter dem Dach trübe. Gegen das schräge Fenster trommelt der Herbstregen. Die sieben alten Stühle rund um den kleinen Holztisch sind besetzt, ein Mann lehnt an der Wand. „Gib mir noch mal einen Schluck Kaffee“, sagt Burkhard und reicht seinen Plastikbecher über den Tisch. Seit vier Wochen kommt er jeden Dienstag zu den Franziskanern in der Pankower Wollankstraße, wo Lisa Rasch Sprechstunde hat. Die Ärztin säubert sein offenes Bein und verbindet es neu. Kostenlos und ohne Krankenschein. Seit letzter Woche hat der 43jährige eine „Penne“, eine Notunterkunft für den Winter. Vorher hat er drei Jahre lang auf der Straße gelebt. Beim Arzt war er in diesen Jahren nie. „Wenn ich einen Schnuppen hatte, dann hab' ich eben gesoffen“, sagt er und steckt sich eine Zigarette an.

Aus dem Nebenzimmer dringt der Flohwalzer. Drinnen sitzt Hanne, eigentlich Hans. Er hat Wasser in den Beinen. Während Lisa Rasch sie wäscht und vom Knöchel bis zum Knie neu verbindet, bläst er seine Bierfahne in eine Mundharmonika. Die Ärztin durchquert den vollgestopften Behandlungsraum mit zwei, drei Schritten und fischt aus einem Karton saubere Socken. „Die sind hier genauso wichtig wie Medikamente und Verbandmaterial“, sagt sie. Hanne lebt seit zehn Jahren „auf Platte“, mal am Zoo, mal am Hauptbahnhof. Der 57jährige ist einer der rund 450 Obdachlosen, ein Fünftel von ihnen Frauen, die Lisa Rasch behandelt. Bei ihm, wie bei vielen anderen, ist Alkoholismus eine Begleitkrankheit. Doch die meisten kommen wegen Hauterkrankungen wie infizierten Wunden oder Kopfläusen zu ihr, auch Atemwegserkrankungen und Grippe muß sie oft behandeln. Ein Erschwernis dabei: Wohnungslosen fehlt die Pflege. „Bei einer Grippe mit 38,5 Fieber legt man sich normalerweise ins Bett“, erklärt die Ärztin. „Obdachlose müssen aber erst auf eine Lungenentzündung warten, damit sie wegen Lebensgefahr ins Krankenhaus eingeliefert und dort im Bett kuriert werden.“ Mit diesem Problem hat sie auch in ihren Sprechstunden in zwei Wärmestuben in Kreuzberg und Charlottenburg zu kämpfen. Bei chronischen Krankheiten sei es noch schwieriger: „Diabetes-Kranke werden im akuten Notfall im Krankenhaus eingestellt, anschließend aber nicht mehr behandelt – bis zur nächsten Überzuckerung.“ All das führt dazu, daß wohnungslose Menschen früher sterben. Lisa Rasch schätzt, daß Obdachlosigkeit zehn Lebensjahre kostet.

Im „Wartezimmer“ gibt der erste auf. Der dunkelhaarige junge Mann wartet bereits eine Stunde, und noch immer sind drei Männer vor ihm. „So wichtig ist es nun auch nicht“, knurrt er, nimmt seine zwei vollgepackten Aldi-Tüten vom beigen PVC-Parkettimitat und geht.

Hanne ist fertig, und Burkhard wechselt ins Nebenzimmer. Wie die beiden haben drei Viertel von Lisa Raschs PatientInnen keinen Krankenschein. Einer der Gründe, warum sie niedergelassene ÄrztInnen nicht aufsuchen. „Hinzu kommt die Angst vor dem Arzt, davor, der Sprechstundenhilfe sagen zu müssen, ,Ich bin wohnungslos‘, oder im Wartezimmer angestarrt zu werden“, erklärt Lisa Rasch. Diese Hemmschwellen fallen hier weg. Lisa Rasch hat auf eine Kassenzulassung verzichtet, statt dessen hat sie eine Ausnahmegenehmigung der Ärztekammer. Bezahlt wird sie von der Caritas, die auch Sachmittel, wie Medikamente und Verbandsmaterial, zur Verfügung stellt. Spenden kommen hinzu. Doch Lisa Rasch kann nur Basisversorgung leisten. Ohne Kassenzulassung kann sie nicht überweisen, keine Rezepte ausstellen und auch kein Labor in Anspruch nehmen. „Ich will hier aber keine Zweiklassenmedizin etablieren, mit primitiver Versorgung ohne ausreichende Diagnostik und Therapie für die Obdachlosen“, sagt die blonde Frau energisch. „Sondern ich will sie ins normale Gesundheitssystem zurückführen.“ Viele der Obdachlosen wissen noch nicht einmal, daß ihnen vom Sozialamt ein Krankenschein zusteht. Auch Aufklärung gehört zu Lisa Raschs Job.

Inzwischen ist auch Burkhards Bein sauber und neu verbunden, endlich wird der erste Stuhl frei. Doch noch hat Lisa Rasch sieben Patienten vor sich. Dafür bleiben ihr drei Stunden, bis 17 Uhr. „Das ist knapp“, sagt die Ärztin, „vielleicht mache ich wieder Überstunden.“ Burkhard ist froh, daß er die Behandlung hinter sich hat. Er klemmt sich seinen geblümten Schlafsack unter den Arm und geht zum Mittagessen zu seinem Kumpel in die Suppenküche. Sabine am Orde

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