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Geburtsstunde der Deeskalation

■ Heute vor 26 Jahren trug der Polizist Werner Textor auf einer großen Vietnam-Demonstration mit einem Unterhaltungsprogramm zur Entspannung bei

Der 21. Oktober 1967 war der Internationale Protesttag gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam. Bei der Abschlußkundgebung auf dem Wittenbergplatz vor 7.000 TeilnehmerInnen sprachen unter anderem Helmut Gollwitzer und Rudi Dutschke. Danach kam der große Auftritt des Berliner Polizisten Werner Textor. An der Ecke Ku'Damm/Joachimstaler Straße blockierten nach Abschluß der Demo etwa 300 StudentInnen mit einem Sitzstreik den Verkehr. Die Wasserwerfer waren schon da. Hätte nicht kurz entschlossen Oberkommissar Werner Textor, damals 46, das Mikrophon des Lautsprecherwagens ergriffen, wäre wohl auch diese Demo nach dem damals bereits eingespielten Muster „Wasserwerfer – Schlagstockeinsatz – Festnahmen“ abgelaufen.

Statt dessen begann ein dreieinhalbstündiges „Unterhaltungsprogramm“ des Polizisten, der mit seinen humoristischen Einlagen ganz entscheidend zur beiderseitigen Entspannung der Situation beitrug. Die Berliner Presse feierte Textor als Helden, der die blöden Studenten nur mit Worten in die Flucht geschlagen hatte. Textor, inzwischen pensioniert, sieht das nicht so primitiv. Noch heute bedauert er, daß damals keine Tonbandaufzeichnungen gemacht worden sind. Immerhin war der Live-Auftritt vor rund 200 BlockiererInnen und etwa 2.000 Schaulustigen die Geburtsstunde eines sogenannten „Diskussionskommandos“ innerhalb der Polizei und damit einer Taktik, die später als „Deeskalationsstrategie“ bezeichnet wurde.

Was hat Demonstranten, Polizisten und Schaulustige damals gleichermaßen erheitert? Nachdem sich Polizist Nr. 79 444 erst mit Namen vorgestellt hatte, ging es weiter mit: „Bitte rücken Sie noch etwas mehr zusammen, auf dem Bürgersteig stehen noch Hunderte, die sich auch hinsetzen wollen. Weil diese jungen Leute mehr geistig als körperlich arbeiten, sei ihnen nach solch langem Protestmarsch eine Ruhepause gegönnt.“ Und weiter: „Wir bitten um Auskunft, wie lange der Sitzstreik ausgedehnt werden soll, damit wir unseren Wachtmeistern gegebenenfalls Stühle beschaffen können.“ Pausen überbrückte Textor mit der Durchgabe von Fußballergebnissen, nur „die Lottozahlen liegen uns leider noch nicht vor“. Nach über drei Stunden schließlich die dezente Ankündigung: „Es beginnt jetzt die zweite Runde unseres Räumspiels Student gegen Gendarm... Es werden Wasserspiele mit neuartigen Geräten vorgeführt, die ein Fassungsvermögen von 5.000 Litern haben. Bitte legen Sie Bademäntel und Badehosen bereit.“ Die Wasserwerfer wurden nicht mehr eingesetzt.

Der Auftritt von Textor kam nicht von ungefähr. „Wer redet, wirft keine Steine“, und „Wer redet, knüppelt nicht“, sei damals seine Devise gewesen. Daß Textors Auftritt so gut gelungen war, hatte seinen Grund in der langjährigen Erfahrung des Polizeibeamten als Amateur-Conférencier, Zauberer und Kabarettist. Schon im Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Pisa/Italien hatte er zusammen mit dem Berliner Kabarettisten Werner Fink Theater gemacht. Nach der Entlassung aus der Gefangenschaft konnte Textor sein Architekturstudium nicht wiederaufnehmen. Um Geld zu verdienen, ging er auf den Bau und lernte Maurer, bis er schließlich 1948 bei der Polizei eintrat. Heute sitzt der 71jährige einem gegenüber, blättert in seiner dicken Mappe mit Zeitungsberichten über ihn und will einem klarmachen, daß das Berliner SEK (Sondereinsatzkommando) eine ganz tolle Sache und eine späte Folge seiner damaligen Demo-Einsätze ist. Man fragt sich unwillkürlich, ob es im Leben von Werner Textor eine Rolle gespielt hat, daß er ein entfernter Verwandter von Johann Wolfgang Goethe ist. Die Mutter von Goethe war eine geborene Textor. Jürgen Karwelat

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