: Wirtschaftsforscher: Rußland braucht Arbeitslose
■ Zur Überwindung der Wirtschaftskrise / Sozialkosten soll der Staat zahlen
Berlin (taz) – Der russischen Bevölkerung geht es durch die Wirtschaftsreformen bisher materiell nicht schlechter als unter Gorbatschow. Das ist eines der Ergebnisse eines Forschungsvorhabens des Bundeswirtschaftsministeriums, das gestern vorgestellt wurden. Die Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), des Instituts für Weltwirtschaft und des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle untersuchten neben der wirtschaftlichen auch die soziale Lage in Rußland. Danach sind die Nominallöhne zwischen Juni 1992 und Juni 1993 mit 835 Prozent stärker gestiegen als die Inflation, die um 730 Prozent zulegte.
Insgesamt allerdings beurteilen die deutschen Wissenschaftler Rußlands Wirtschaftslage mit großer Skepsis, wofür sie vor allem die Blockade zwischen Regierung und Oberstem Sowjet (der Bericht wurde im September abgeschlossen) verantwortlich machen.
Große Auswirkungen hatte die gegenseitige Blockade auf die Planung des Staatshaushalts. Der grundsätzliche Konflikt zwischen Jelzins Regierung und dem strukturkonservativen Parlament spitzte sich vor allem an der Frage zu, wieviel Geld der Staat für was ausgeben soll. Für die Wissenschaftler offenbarte sich in der Diskussion, in der jeder mit anderen Zahlen jonglierte, wie wenig verbindlich Absichtserklärungen russischer Politiker sind. Allerdings habe der Kampf um das Budget auch die „extremen Schwierigkeiten bei der Einschätzung der Situation der öffentlichen Haushalte“ verdeutlicht.
Ihren eigenen Bericht versehen die Forscher daher mit vielen Fragezeichen. Die statistische Berichterstattung habe sich noch weiter verschlechtert, konstatieren sie. Vor allem die Aktivitäten des stark wachsenden Privatsektors könne man kaum erfassen, weshahlb „erhebliche Unsicherheiten über den tatsächlichen Ablauf des Transformationsprozesses“ bleiben.
Nach den vorhandenen offiziellen Daten steckt Rußland weiterhin in einer tiefen Wirtschaftskrise. Das Bruttoinlandsprodukt (der Wert aller im Inland geschaffenen Waren und Dienstleistungen) sank danach im 1. Halbjahr 1993 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 1992 um 15 Prozent; die Inflation lag monatlich zwischen 20 und 30 Prozent. Seit September 1992 allerdings ist die Industrieproduktion nicht mehr weiter zurückgegangen, wobei sich einzelne Branchen höchst unterschiedlich entwickelten: Stark rückläufig war die Produktion in der Petrochemie, der Baustoff- und der Leichtindustrie, stabil bei der Stromerzeugung und der Nahrungsmittelproduktion.
Eine Ursache für den Produktionsrückgang beispielsweise der Leichtindustrie sehen die Forscher darin, daß die ärmeren Schichten der Bevölkerung weniger Schuhe und Kleidung kauften, während alle, die sich's leisten konnten, importierte Kleidung bevorzugten.
Als größtes Strukturhindernis auf dem Weg in die Marktwirtschaft sehen die Wirtschaftswissenschaftler den Arbeitsmarkt. Obwohl seit drei Jahren die Produktion zurückging, haben die Betriebe kaum Stellen abgebaut. Nach wie vor aber „ersetzen die Betriebe das fehlende soziale Netz“, heißt es in dem Bericht. Gerade das müsse geändert werden – wobei eine höhere Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen sei.
Nach Auffassung der Forscher muß künftig der Staat für die soziale Sicherheit aufkommen, die Betriebe von diesen Kosten entlastet werden. Dazu gehörten vor allem auch unabhängige Tarifparteien, welche die Lohnentwicklung aushandeln könnten. Nur so könnten die Betriebe in die Lage versetzt werden zu investieren, die Produktion zu steigern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. dri
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