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Auf der schwierigen Suche nach der einfachen Wahrheit

■ Sexueller Kindesmißbrauch kommt in den besten Familien vor - aber wie stellt man ihn fest? Die Familie ist ein sozialer und ideologischer Zusammenhang, wo Loyalität schnell zur...

Es war tiefer Winter, trotzdem kam das kleine Mädchen des öfteren im dünnen Kleidchen, in Lackschühchen und Nylonstrumpfhosen in die Kindertagesstätte. Wenn es mit anderen Kindern spielte, wollte es sich auf die Gefährten legen und Küsse austauschen. Oft onanierte es. Stark sexualisiertes Verhalten, sagen die Psychologen dazu. Aber die Erzieherinnen gewannen dennoch im Lauf der Zeit keinen Beweis für einen sexuellen Mißbrauch der Kleinen in der Familie. „Bei solchen Fällen muß man die Sache dann doch auf sich beruhen lassen“, meint Sigrid Richter-Unger von der Berliner Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (KiZ). Obwohl die Betreuerinnen ein komisches Gefühl im Bauch nicht loswurden.

Aber ein komisches Gefühl im Bauch ist kein Beweis. Denn mit Gefühlen ist das Thema sexueller Mißbrauch an Kindern schon so überladen wie kein anderes Delikt. Und bei keinem anderen Delikt sind die Methoden der Aufdekkung und Therapie so umstritten, ist die Wahrheitsfindung so mühsam wie beim sexuellen Mißbrauch in der Familie. „Aufgrund der Strukturen von Geheimhaltung und Verleugnung ist es extrem schwierig, in Verdachtsfällen die Wahrheit herauszufinden“, stellt die Berliner Familientherapeutin Ellen Becker fest. „Loyalität und Bindung zwischen Tätern und Opfern wirken wie ein dichtes Spinnennetz, aus dem sich die Opfer nicht ohne fremde Hilfe befreien können.“

Die „fremde Hilfe“ ist notwendig, gehört aber gleich mit zum Problem. Leisten die Hilfe nahestehende pädagogische Kräfte, wie beispielsweise ErzieherInnen oder LehrerInnen, so ist zwar vielleicht ein Vertrauensverhältnis vorhanden, die PädagogInnen aber haben oft weder Zeit noch Nerven und auch keine Ausbildung für kindgemäße Befragung. Wird das Kind dagegen aufgrund eines Verdachts mit speziell trainierten SozialarbeiterInnen und PsychologInnen zusammengebracht, muß ein Vertrauensverhältnis erst aufgebaut werden.

„Wilde Konfrontation“ ist schädlich

Das aber ist eine zwiespältige Angelegenheit. „Benutzen Sie die Intensivierung des Kontaktes zum Kind nicht als Mittel zum Zweck im Zuge der ,Beweisführung‘“, warnt Matthias Heinson-Krug, Familientherapeut am Kinderschutzzentrum in Lübeck. „Dies könnte zur Folge haben, daß das Engagement nach der Klärung abrupt zurückgenommen wird. Wahrscheinlich wird sich das Kind dann auch von uns benutzt fühlen.“ Ausgeforscht, von der Familie getrennt und dann alleingelassen – die Aufdeckung und ihre Folgen können für das Opfer schlimm sein, ein Grund, warum Fachleute hier auch von „sekundärer Traumatisierung“ sprechen.

So soll es nicht laufen, aber genauso läuft es viel zu oft: Eine Erzieherin vermutet, daß ein Kind sexuell mißbraucht wird. Die Kleine greift den Jungs in der Gruppe an die Hose, zieht sich oft aus und redet von Schwanz und Muschi in einem Alter, in dem sich ihre SpielgefährtInnen vor allem für Eiscreme und „Sesamstraße“ interessieren. Neulich hat sie sogar vom großen Pipimann ihres Vaters erzählt. Irgendwann hält es die Erzieherin nicht mehr aus. Zwischen Tür und Angel schildert sie der Mutter ihren Verdacht. Die Reaktion: Empörung, Unglauben. Zu Hause spricht die aufgelöste Mutter sofort den Vater an. Die Eltern sind sich einig: üble Unterstellung! Wenn das Kind schon so komisch ist, kann es das wohl nur von den anderen Kindern haben. Das Paar schließt sich noch enger zusammen, schimpft mit dem Kind oder nimmt die Kleine sogar aus der Kita. Wenn tatsächlich der Vater sein Kind sexuell mißbraucht, kann er jetzt in Ruhe weitermachen. Wenn nicht, hat das Kind auch Schaden gelitten.

„Wilde Konfrontation“ nennen manche Familientherapeuten diesen schweren Kunstfehler, und auch Sigrid Richter-Unger von KiZ hat „solche Fälle erlebt“. Es ist nicht die einzige Falle, in die professionelle Kräfte tappen können, wollen sie einem Kind helfen. Denn die Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs ist ein „Minenfeld“ für Fehlverhalten, warnt der Kinder- und Jugendpsychiater Tilmann Fürniss aus Münster.

Überhastetes Eingreifen ist ein Fehler, stillschweigendes Ignorieren durch die Umwelt aber kommt nach Ansicht von ExpertInnen häufiger vor. Sexueller Mißbrauch geht meist nicht nur über eine sehr lange Zeit, „es braucht auch oftmals mehrere Monate und viel Geduld, ihn aufzudecken“, betont Sigrid Richter-Unger. Körperliche Symptome wie Verletzungen an den Geschlechtsorganen können nur selten festgestellt werden.

Zeichnungen sind kein Beweis, aber Aussagen

„Je jünger ein Kind ist, um so schwieriger wird der Nachweis“, meint die Therapeutin. Sexualisiertes Verhalten, Kinderzeichnungen mit übergroßen Geschlechtsorganen können Anzeichen sein, Beweise sind es nicht. Auch das Spiel mit den berühmten anatomischen Puppen ist umstritten, wenn man es als einziges Beweismittel einsetzt.

Als verhältnismäßig schlagkräftige Beweise vor Gericht dagegen gelten klare verbale Aussagen der Kinder. Im Gegensatz zu Zeichnungen ließen sich aus dem Gespräch mit möglichen Opfern sichere Hinweise auf ihre Glaubwürdigkeit entnehmen, resümierte unlängst der Kölner Sachverständige Udo Undeutsch auf einer Tagung. Er untersuchte mehrere hundert angeblich mißbrauchte Kinder. Eine Aussage sei mit ziemlicher Gewißheit wahrheitsgemäß, wenn das Kind im Vier-Augen- Gespräch mit einer geschulten Kraft über Details der Tat berichte und dabei auch Reaktionen des Täters miteinbeziehe, so Undeutsch.

Die Justiz hat für kindliche Aussagen sogenannte „Realkennzeichen“ entwickelt, die auf wahrheitsgetreue Wiedergabe oder aber bewußte Falschaussage hindeuten. Letzteres kann eine Rolle bei Sorgerechtsprozessen spielen, wenn ein Elternteil dem Kind etwas „eingetrichtert“ hat. Logische Konsistenz, aber durchaus sprunghafte Darstellung sind beispielsweise ein Wahrheitsmerkmal. Eine genaue chronologische Darstellung dagegen kann eher auf eine auswendig gelernte Aussage hindeuten. Tonband- und Videoprotokolle entlarven darüber hinaus beeinflussendes Agieren des Gutachters. Auch für Fragen gibt es Merkmale ihrer „unterschiedlichen Suggestivwirkung“. So weit, so klar – aber leider können die meisten Kinder erstmal nicht über den Mißbrauch sprechen. In der Regel hat der Täter in der Familie dem Kind in irgendeiner Weise verboten, über das gemeinsame „Geheimnis“ zu reden.

In der Praxis muß daher die Betreuungsperson, beispielsweise eine Erzieherin, zu „dem Kind ein solches Vertrauensverhältnis aufbauen, daß irgendwann mal eine klare Aussage kommt“, so Richter-Unger. Manchmal wird den PädagogInnen empfohlen, in der Kindergruppe erst über „gute“ und „schlechte“ Geheimnisse zu sprechen, um das Kind dann unter vier Augen zu ermuntern, sein „schlechtes“ Geheimnis zu verraten. Wenn es dann irgendwann erzählt, daß „der Papa immer ins Bett pinkelt“ oder ihr der Freund der Mutter immer „den Finger in die Muschi steckt“, ist die Beweislage klar. Die Konfrontation des mutmaßlichen Täters mit Jugendamt und Bezugspersonen des Kindes steht kurz bevor.

Die Mutter wird vorher benachrichtigt, wenn sie als zugänglich gilt oder gar selbst den Verdacht auf Mißbrauch in der Beratungsstelle geäußert hat. Bevor es zur Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter kommt, haben in der Regel auch schon mehrere sogenannte „Hilfekonferenzen“ zu dem Fall stattgefunden. TeilnehmerInnen sind das zuständige Jugendamt, Bezugspersonen des Kindes und gegebenenfalls Beratungsstellen. Über eine Grundregel besteht Konsens bei den Experten: Spätestens zum Zeitpunkt der Konfrontation muß eine Möglichkeit gegeben sein, das Kind vom mutmaßlichen Täter getrennt unterzubringen. Ist die Reaktion der Mutter nicht vorherzusehen oder ist zu erwarten, daß sie den Täter deckt, muß das Vormundschaftsgericht zuvor einen Bescheid auf sogenannten einstweiligen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts erstellen.

Einen solchen Bescheid erwirkt das Jugendamt, dabei muß der Verdacht auf Mißbrauch überzeugend belegt sein. „Wir haben eher die Erfahrung gemacht, daß Vormundschaftsrichter zögern, eine solche Entscheidung zu fällen“, erzählt Richter-Unger.

Anders sieht der Verlauf aus, wenn die Mutter sich selbst schützend vor das Kind und gegen den mutmaßlichen Täter stellt. Wenn dieser dann von sich aus die Wohnung verläßt, ist dies die beste Lösung. Leider kommt das eher selten vor: „Viele Mütter nehmen eher hin, daß ihr Kind ins Heim kommt, als sich von ihrem Mann zu trennen.“ Oftmals haben die Frauen Angst vor wirtschaftlicher Not, meist sind auch noch andere Kinder da.

Je mehr Gutachten, desto verwirrter das Kind

Es bringt aber nichts, das Opfer in der Familie zu lassen, etwa in Hoffnung auf eine „gemeinsame Therapie“. Tilmann Fürniss erinnert sich an diese Versuche. „Je mehr ich das Kind und die Familie behandelte, um so mehr bedrohte der Mißhandler das mißhandelte Kind, um das Geheimnis zu wahren.“

Für das Opfer ist es entlastend, wenn der Mißbraucher in der Konfrontation das Vergehen eingesteht. Bei kaum einem anderem Vergehen aber verleugnen die Täter das Delikt – auch vor sich selbst – mit solcher Überzeugungskraft. Oftmals fechten Eltern die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts an.

Auf das Kind kommen weitere Anhörungen und Gegengutachten zu. „Das geht immer auf Kosten des Kindes“, so Richter-Unger. Im schlimmsten Fall schalten Eltern neuerdings sogar die Medien ein. Ob aber gerechtfertigt oder nicht – weitere Befragungen erhöhen in jedem Fall die Verwirrung des mutmaßlichen Opfers. „Wiederholte Interviews führen zu sekundärer Traumatisierung und oft zu Ableugnung und Verdrehung der Fakten“, stellt Fürniss fest. Hinzu kommt der Zeitfaktor: „Wenn ein Erlebnis ein Jahr zurückliegt, so ist das für ein sechsjähriges Kind eine sehr lange Zeit“, gibt Richter-Unger zu bedenken. Es ist ohnehin schon schwierig für ein so kleines Kind, sich zu erinnern, wie oft etwas passiert ist. Einmal, zweimal oder viele Male?

Manchmal kommen Sachverständige dann zu entgegengesetzten Ergebnissen. Die Psychologin Dietke Jirku von der Berliner Beratungsstelle „Wildwasser“ schildert einen solchen Fall. Die vom Vater getrennt lebende leibliche Mutter einer Fünfjährigen wollte dem Vater das Besuchsrecht verbieten, wegen des Verdachts auf sexuellen Mißbrauch. Der Beraterin von „Wildwasser“ erzählte das Kind im Laufe der Befragung, die Stiefmutter und der Vater hätten an ihrer Scheide gerieben. Außerdem habe sie den Penis des Vaters in den Mund genommen.

Der Bericht von „Wildwasser“ stellte den sexuellen Mißbrauch fest, das Forensische Institut in Berlin aber kam Monate später zu einem anderen Ergebnis. Das Mädchen hatte während der Zeit des mutmaßlichen Mißbrauchs eine Blasenentzündung gehabt, die Manipulationen an der Scheide seien also im „pflegerischen Kontakt“ passiert, befand der Gutachter.

Auch ließe sich aus den Worten der Schwester des Mädchens schließen, die Kleine habe den Penis des Vaters freiwillig und spielerisch mit dem Mund berührt. Der Besuchskontakt zum Vater blieb bestehen. Solche unterschiedlichen Einschätzungen seien aber eher selten, berichtet Jirku von „Wildwasser“.

Die Beraterinnen haben nach der Medienkritik an Aufdeckungsmethoden eher eine andere bedrückende Erfahrung gemacht: „Manche Professionellen zögern jetzt, sich mit dem Thema zu beschäftigen“, so Jirku. Denn das Engagement kostet Zeit und Mühe, und „oft sind die Professionellen die Dummen und werden selbst der Hysterie beschuldigt“. Das stillschweigende Ignorieren ist eine fatale Konsequenz, geht man nach den Dunkelziffern der ExpertInnen.

Danach ist sexueller Mißbrauch an Kindern immer noch ein Vergehen, das weitaus häufiger verleugnet als zu Unrecht vermutet wird.

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