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Seveso ist überall, auch in Schönberg

■ Sind die mysteriösen Dioxinfässer der Hoffmann-La-Roche-Tochter ICMESA doch in der Deponie Schönberg gelandet ? Mischte auch Schalck-Golodkowski mit ? Experten suchen mit Radargeräten

Lübeck/Berlin (taz) – Siebzehn Jahre nach der Unglück von Seveso könnte der Chemiekonzern Hoffmann-La Roche erneut in Erklärungsnotstand geraten. Was geschah wirklich an jenem 10. Juli 1976, als der Reaktor A 101 in der Abteilung B der italienischen Tochter ICMESA explodierte? Und was geschah danach?

Unerklärlich ist bis heute vor allem die Irrfahrt der Fässer, in die nach dem Unfall dioxinverseuchte Erde verpackt worden war. Sie waren verschwunden, tauchten in Südfrankreich auf, wurden schließlich in Basel verbrannt. Eine Show, in der auch die Wahrheit in Rauch aufgehen sollte, so vermutet heute nicht nur der Fernsehjournalist Ekkehard Sieker. Lübecker Grüne zum Beispiel hegten seit langem den Verdacht, daß das Seveso-Dioxin in Wirklichkeit in die damalige DDR auf die Deponie Schönberg verschoben worden sei. Zollpapiere, Fotodokumente und interne Unterlagen des Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche bewiesen nach Siekers Recherchen, daß die in Basel verbrannten Fässer sich in Größe, Gewicht und Aussehen von den Fässern deutlich unterschieden haben, die 1982 Seveso verließen.

Gestern erläuterte Siecker auf einer Pressekonferenz der Lübecker Grünen seine Vorwürfe: „Nach Auswertung aller mir vorliegenden Dokumente bin ich sicher, daß die 41 Fässer mit dem Dioxin aus Seveso in der Deponie Schönberg vergraben wurden.“ Neue Dokumente lieferten deutliche Indizien dafür, daß mindestens 42 Fässer mit dem Ultragift im Jahr 1982 auf Europas größter Sondermüllkippe gelandet sind. Haupthinweis für die These ist ein Brief des französischen Abfallmaklers Bernard Taringaux vom Oktober 1982, in dem dieser seinen italienischen Auftraggebern schreibt, die Giftfässer seien in einer ausländischen Deponie vergraben worden. In dem Brief verweist Taringaux auf einen anderen Schriftwechsel, aus dem hervorgeht, daß es sich bei dieser ausländischen Deponie um Schönberg gehandelt haben muß.

Nach Informationen, die auch den Lübecker Grünen vorliegen, wurden die Giftabfälle über Hamburg, Lübeck und Wismar auf die Müllkippe transportiert. In den Deal sollen auch der Lübecker Müllhändler Adolf Hillmer, der ehemalige Staatssekretär des schleswig-holsteinischen Umweltministeriums, Peter-Uwe Conrad, und der Schönberger Deponiechef eingeweiht worden sein.

Im Auftrag des Umweltministeriums von Mecklenburg-Vorpommern fahnden seit Mittwoch fünf Experten mit elektromagnetischen Verfahren und Bodenradar auf der Deponie nach den verschwundenen Fässern. Nach DDR-Unterlagen aus dem Bereich der Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) wurde Anfang der 80er Jahre ein drei Hektar großes Deponiestück für die Lagerung hochgiftiger Abfälle hergerichtet. Mysteriös: Obwohl penibel über die Abfallhalde Buch geführt wurde, fehlen sämtliche Unterlagen darüber, was in den Jahren 1982 und 1983 auf diesem speziellen Teilstück verbuddelt wurde – in genau dem Zeitraum also, in dem die Seveso-Fässer auf bisher unbekannte Weise verschwanden.

Der Schweizer Konzern verwahrt sich weiterhin gegen diese Vorwürfe. Die Entsorgung der 41 Fässer sei „fachgrecht erfolgt“, dabei sei insbesondere „der dioxinhaltige Inhalt aus dem Unfallreaktor in Seveso von unabhängigen Experten identifiziert worden.“ Hoffmann-La Roche verweist dabei auf Strafgerichtsverfahren in mehreren Instanzen. Dabei habe sich auch „zweifelsfrei bestätigt“, daß in der Unfallfabrik von Seveso „ausschließlich Trichlorphenol hergestellt worden“ sei.

Nach Siekers Recherchen sind daran Zweifel erlaubt. Immerhin sind für das Kommunalgericht in Monza sechs Fachleute zur Überzeugung gelangt, daß in dem Unglücksreaktor „fast immer“ Temperaturen zwischen 191 und 300 Grad Celsius geherrscht haben – weit mehr also, als nach Angaben von Hoffman-La Roche selbst zur normalen Produktion des Trichlorphenol nötig waren. Ehemalige Angestellte und Augenzeugen aus Seveso deuten in Siekers Film an, in der Chemiefabrik sei nicht nur Trichlorphenol hergestellt worden. Der Schritt von diesem Zwischenprodukt zum Kampfstoff „Agent Orange“ wäre zumindest chemisch sehr klein. Marco Carini/Niklaus Hablützel

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