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Endstation Freiheit: Solidarität in Beton

Selbsthilfe anno dazumal: Arbeitersiedlungen als Wohnmodelle jenseits von Wüstenrot  ■ Von Tilman Baumgärtel

Selbst Herbert Wehner hatte mit der Freiheit seine Probleme. Als er 1948 als Delegierter beim ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Düsseldorf war, irrte der Sachse auf der Suche nach seinem (Gäste-)Bett durch die Arbeitersiedlung Freiheit im Düsseldorfer Vorort Vennhausen. Denn in der Siedlung Freiheit sah damals wie heute ein Haus aus wie das andere. Die identisch gebauten Häuser um die Friedrich-Engels- und die Freiheitsstraße sind Beton gewordener Ausdruck von Solidarität. 1922 gründeten 152 „Genossen“ den „Gemeinnützigen Arbeiter-Bauverein Freiheit“, der in den folgenden Jahren für Arbeiterfamilien Haus um Haus errichtete. Damals hieß die letzte Station der Düsseldorfer Straßenbahnlinie Nummer 7 „Endstation Freiheit“.

Die Düsseldorfer Siedlung ist nur ein Beispiel für die selbstverwalteten Wohnungskooperativen, einem Erbe der Arbeiterbewegung – und sie ist bei weitem nicht das schönste. An Rhein und Ruhr stehen noch heute Hunderte von Beispielen für ehemals genossenschaftlich verwaltete Siedlungen, Banken, Geschäfte, Brauereien und Sportvereine, die einladen zu einer politisch korrekten Entdeckungsreise auf der Suche nach einer heute vergessenen Arbeiterkultur.

In den ehemaligen Arbeitervierteln wie Prenzlauer Berg in Berlin oder im Ruhrgebiet kann noch heute besichtigt werden, was Hausbesitzer als Wohnraum für arme Arbeiterfamilien vorgesehen hatten: Mietskasernen mit fünf Hinterhöfen, Wohnküchen, luft- und lichtlose Hinterhäuser, Etagenklo. Als Alternative dazu entstanden seit Ende des vergangenen Jahrhunderts in allen Städten mit großer Arbeiterdichte Wohnungsprojekte, die man heute „alternativ“ oder „selbstverwaltet“ nennen würde. Neben den sozialdemokratischen Zeitungen, den Arbeitersparvereinen, den freien Schulen oder der Arbeiter-Turnbewegung waren sie ein wichtiger Ausdruck der Emanzipation der Arbeiterklasse vor und nach dem Ersten Weltkrieg – eine Art Gegenkultur, die gerne unter den Teppich gekehrt wird.

Erst Bücher wie der „Reformführer NRW“ aus dem Böhlau- Verlag erinnern daran, daß es durchaus möglich war (und eigentlich noch sein sollte), daß Leute, die eine Wohnung brauchen, deren Bau selbst in die Hand nehmen – nicht mit „Wüstenrot-Bauherren-Modell“, sondern als eine gemeinschaftliche, solidarische Handlung. Mitglieder der Genossenschaften zahlten monatlich einen ihrem Einkommen entsprechenden Beitrag in die gemeinschaftliche Kasse ein, mit Krediten von Volksbanken wurden dann Wohnsiedlungen gebaut und an die Genossenschaftler verteilt.

So entstanden Stadtviertel wie die Siedlung Borsigplatz in Dortmund (1897 bis 1912, um die Oesterholz-, Wambeler Straße) in weitgehend klassizistischem Stil, die den Werkswohnungen des Eisen- und Stahlwerks Hoesch Konkurrenz machen wollten. Nicht zufällig ist das schönste Gebäude der Neorenaissance-Flügelbau des Dortmunder „Spar- und Bauvereins“, der von Arbeitern und der Gewerkschaft getragen wurde.

Typisch kölsch ist dagegen die Siedlung, die die „Arbeiterwohnungsgenossenschaft“ im Kölner Stadtteil Ehrenfeld – sie war von einem Pfarrer angeregt worden, von katholischen und evangelischen Arbeitervereinen entwickelt und von zahlreichen Unternehmen getragen. Was im roten Ruhrgebiet unmöglich gewesen wäre, war im katholisch geprägten Köln keine Seltenheit. Die Ehrenfelder Vorortsiedlung wurde – im geplanten Gegensatz zur Dortmunder Mietskaserne – im Stil des traditionellen rheinischen „Dreifensterhauses“ als Reihenhaus gebaut (1895 bis 1899, um die Baadenberger Straße und den Lenauplatz).

Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen auch führende Architekten des „Neuen Bauens“ Aufträge der Wohnungskooperativen – dadurch werden Ausflüge zu den kooperativen Siedlungen auch für Architektur-Fans interessant. Eines der bemerkenswerten Projekte findet sich in Hagen, mit Bauten von van der Velde und Riemerschmidt sowieso ein Mekka für jeden, der sich für moderne Architektur interessiert: Die Cuno-Siedlung, benannt nach einem Hagener Oberbürgermeister, ist ein aufregendes Beispiel für eine Kombination aus rheinischem Backstein- Expressionismus und Neuer Sachlichkeit (1926 bis 1927, Heinrich-, Dorotheenstraße). Die heute denkmalgeschützte Siedlung wurde von Ewald Figge wie eine Burganlage aus rotem Ziegel an einem Hang der Phillipshöhe erbaut. Für alle Haushalte gab es in der Wohnanlage eine zentrale Wäscherei mit einem Angestellten. Im gleichen Haus befand sich auch eine Badeanstalt mit Brause und Wannenbädern.

Ein weiteres Beispiel für ein radikales Architekturmodell im Siedlungsbau der zwanziger Jahre ist die Ein-Schornstein-Siedlung in Neudorf/Duisburg des „Gemeinnützigen Bauvereins AG Essen“. Geplant von den Architekten J. und W. Kramer kann man hier lupenreinen, bauhausgeprägten Modernismus betrachten (1929/30, zwischen Wild-, Kortum- und Mozartstraße). Von den ehemals 441 Wohneinheiten sind noch 434 erhalten, die allerdings nicht mehr den ursprünglichen dreifarbigen Anstrich tragen. Auch das Hauptgebäude der Siedlung existiert noch, wenn auch im Verfall begriffen: Hier befand sich früher ein zentrales Heizwerk, Werkstatt, Wasch- und Badehaus, Gaststätte, Festsaal und Kindergarten.

Doch nicht nur das Wohnen wurde in dieser Zeit selbstverwaltet organisiert: In den Konsum- Genossenschaften konnten Mitglieder gegen einen geringen Beitrag einkaufen, in städtischen Ballungszentren oft die einzige Möglichkeit für Arbeiter, frisches Obst und Gemüse zu erwerben. Von den Vordenkern der Genossenschaftsbewegung war dieses System als eine „Abschaffung des Kapitalismus ohne Revolution“ gedacht – je mehr Menschen Mitglied in den Genossenschaften wurden, die keinen Mehrwert erwirtschaften mußten, würde irgendwann, so hoffte man, die Erwerbswirtschaft von selbst in sich zusammenbrechen.

Diese Exempel blühender Arbeiterkultur wurden natürlich als erstes von den Nazis privatisiert. Zurück blieb der Traum von einem selbstbestimmten Leben, das weder die Neue Heimat noch coop, noch die AOK – alles Relikte aus der Zeit der Genossenschaften – einlösen konnten. Doch uneingelöste Ideen kommen zurück wie Untote – oder ist es ein Zufall, daß die Bewohner der Hafenstraße ein Neubauprojekt planen, das nach genossenschaftlichem Modell organisiert ist?

Klaus Novy, Arno Mersmann, Bodo Hombach (Hrsg.): „Reformführer NRW“, Böhlau-Verlag, 39,80 DM.

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