Neue Musik im Überraschungsei

■ Zur Nachahmung empfohlen: Die Kreuzberger Konzertreihe „Unerhörte Musik“ feierte ihren 200. Spielabend

Das Kinderüberraschungs- Schokoladenei ist längst zu einer Ikone geworden; Schokolade, was zum Spielen und 'ne Überraschung soll die Mama vom Einkaufen mitbringen, und so manches Mal wird Kindchen, nach freudigem Verzehr der äußeren Hülle, enttäuscht auf die Innereien geblickt haben. So ist das mit Überraschungen, das ist ja das Spannende. Musik kommt aus diesen Überraschungseiern nur selten heraus, die gibt es anderswo. Aber manchmal ebenfalls im Überraschungspaket.

Seit über vier Jahren gibt es in Berlin die Konzertreihe „Unerhörte Musik“. Allwöchentlich, am Dienstagabend, wird in einem Kreuzberger Dachgeschoß — das in seiner abwechslungsreichen Geschichte schon als Discothek und Jazzclub diente, nun aber seit einiger Zeit zur Kleinkunstbühne umgebaut ist — allerlei zeitgenössische Kammermusik geboten. In der übrigen Zeit bespielt die „Berliner Kabarett Anstalt“, das „BKA“, das Podium.

Die Neue Musik wird nach dem psychologischen Modell des Überraschungseis präsentiert. Die meisten Zuhörer sind aus dem Kindesalter freilich schon ein Weilchen heraus [Na, bei meinem letzten Besuch dort hatte ich nicht den Eindruck; dort wurde gegickelt und gekichert, daß es nur so störte! d.säzzer]. So ersetzt man die Schokolade lieber durch ein Bierchen, das vor oder nach oder auch während der musikalischen Darbietung, im Vorraum der Bar oder unterhalb des Podiums an einem der Caféhaus-Tische getrunken werden kann, und wartet gespannt, was da an Tönen und Klängen auf einen zukommen mag. Sicher ist nur, daß der Besucher einen Großteil der Stücke nicht kennt. Neue Musik besinnt sich ihres Namens.

Wer geduldig ist und Enttäuschungen verkraftet, der kann Entdeckungen machen, kann neue Talente bei ihren ersten Schritten erleben oder sehr selten zu hörende Werke bekannter Komponisten, die auch auf Konserve nirgends zu finden sind, kennenlernen. Zu entdecken gab es einiges: Crumbs begeisternde Klavierlieder „Apparitions“ und Ernst Kreneks naiv-lustig und reichlich verspätete Versuche in elektronischer Musik, einen Abend lang Klaviermusik junger japanischer, ein anderes Mal israelischer Komponisten. Bei ihrem 200. Konzert am letzten Dienstag konnte die Reihe auf eine dreistellige Zahl an Uraufführungen von Kompositionen aus aller Herren Länder längst verweisen. Und als Entschädigung dafür, daß der Inhalt des Jubiläums-Überraschungseis eher zum musikalisch Enttäuschenden zählte, gab's danach ein kleines Festbuffet mit falschem Kaviar statt Schokolade.

Zum Feiern hatte der engagierte Organisator Rainer Rubbert wohl auch allen Grund, ist doch eine derartige Neue-Musik-Serie bundesweit einmalig. Es gibt ein Stammpublikum, und zum Jubiläumskonzert kamen knapp 300 BesucherInnen. Und obwohl der Senat mal eben eine Ausfallgage von 300 Mark pro Musiker garantiert, nutzen längst auch renommierte Berliner Interpreten das Podium, um Programme zu spielen, die sie kommerziellen Veranstaltern kaum anbieten könnten. Andere Städte sollten ihren jungen Musikern Gutes tun und das Modell nachahmen. Eduard Hanslicks Worte: „Das berühmte Axiom, es könne das wahrhaft Schöne niemals, auch nach längstem Zeitverlauf, seinen Zauber einbüßen, ist für die Musik wenig mehr denn eine schöne Redensart. Die Tonkunst macht es wie die Natur, welche mit jedem Herbst eine Welt voll Blumen zu Moder werden läßt aus dem neue Blüten entstehen.“ könnten Pate stehen. Fred Freytag