Entführung im Zentrum von Algier

■ Der Terror der FIS richtet sich nun auch gegen Ausländer

Berlin (taz) – Nun geht in Algerien auch unter den Ausländern die Angst um. Bis vor einem Monat noch richtete sich der Terror islamischer Fundamentalisten ausschließlich gegen die eigenen Landsleute, vorwiegend gegen Soldaten und Polizisten und Intellektuelle. Innerhalb der letzten vier Wochen aber sind nun schon sieben Ausländer ermordet aufgefunden worden. Und nichts spricht dafür, daß das Ehepaar Jean-Claude und Michèle Thévenot und Alain Freyssier, alle drei Angehörige des französischen Generalkonsulats in Algier, noch am Leben sind. Sie wurden am Sonntag morgen vor ihren Wohnungen im Zentrum der Hauptstadt entführt. Ein Polizist, wurde beim Überfall erschossen. Ein vierter Franzose konnte den Menschenräubern entkommen.

Ende September wurden zwei französische Landvermessungstechniker tot aufgefunden. Mitte Oktober wurden zwei russische Oberstleutnants, die in einer Militärakademie arbeiteten, ermordet. Am Donnerstag wurden ein Kolumbianer, ein Peruaner und ein Filipino, die für eine italienische Firma arbeiteten, zwei Tage nach ihrer Entführung erdrosselt aufgefunden. Die Verschleppung von zwei Japanern konnte im letzten Moment verhindert werden. Aufgrund dieser Entwicklung hat nun Siemens die Angehörigen ihrer zehn Mitarbeiter in Algerien aufgefordert, das Land zu verlassen, und die deutsche Schule in Algier hat nun schon gestern, zwei Tage vor Beginn der Herbstferien, ihre Pforten geschlossen.

Seit Anfang 1992 der zweite Wahlgang zu den ersten freien Parlamentswahlen in Algerien annulliert wurde, weil ein überragender Sieg der fundamentalistischen „Islamischen Heilsfront“ (FIS) deutlich absehbar war, ist das Land nicht mehr zur Ruhe gekommen. Nachdem die FIS verboten wurde, meldete sie sich aus dem Untergrund: zunächst mit Flugblättern und Zeitungen, die an den Wänden der Moscheen angeschlagen wurden, dann immer häufiger mit Waffen. In den letzten Monaten sind Dutzende von Polizisten und Soldaten, Ärzten, Professoren, Juristen und Journalisten erschossen worden, wobei die Urheberschaft der Attentate nicht in jedem Fall ganz klar ist. Weniger Aufsehen erregten im Ausland die Morde an Hunderten von Unbekannten. Das Land lebt am Rand eines Bürgerkriegs.

Nicht jeder Mord allerdings geht auf das Konto islamischer Fundamentalisten. So wurde im Juni vergangenen Jahres Präsident Mohamed Boudiaf, der von der politischen Klasse ein halbes Jahr zuvor aus seinem langjährigen Exil in Marokko herbeigerufen worden war, im Auftrag von Kreisen der militärisch-industriellen Nomenklatura, die die Aufdeckung von korrupten Machenschaften zu befürchten hatten, erschossen. Auch der Mord am früheren Ministerpräsidenten Kasdi Merbahi Ende August dieses Jahres geht vermutlich aufs Konto der „politischen Mafia“. Doch daß der Terror gegen Intellektuelle und Ausländer vor allem von der FIS ausgeht, daran gibt es kaum Zweifel.

Nachdem Boudiaf im vergangenen Jahr sechzig Persönlichkeiten aus der Intelligenzija, Künstlerkreisen und Gewerkschaften in einen letztlich machtlosen „Konsultativrat“ kooptiert hatte, um die Machtbasis des Regimes zu erweitern, hat nun der Hohe Staatsrat, der als kollektives Präsidium fungiert, eine neue Initiative gestartet: Er bildete ein „Komitee für den Nationalen Dialog“, dem drei hohe Offiziere und fünf Zivilpersonen angehören, unter ihnen ein Führer des antikolonialen Befreiungskrieges, ein ausgedienter Diplomat, ein Hochschulrektor und zwei Juristen. Sie sollen spätestens am 15. November eine nationale Versöhnungskonferenz einberufen, zu der neben einer Reihe von Berufsverbänden, Gewerkschaften und anderen Organisationen auch die FLN, die sozialdemokratische RCD und die FFS, die vor allem in der von Berbern besiedelten Kabylei stark ist, sowie moderate islamische Organisationen ihre Delegierten senden sollen. Die FIS, das gilt als sicher, wird nicht auf der Liste der Geladenen stehen. Aber zum erstenmal steigen nun ihre direkten Gegner, die Militärs, quasi in eigener Sache in den politischen Ring. Thomas Schmid