: Lustiges Hauen und Stechen
Ein Streifzug durch die Sushibar der Avantgarde: Zur Neueröffnung des Marstalls in München ■ Von Arnd Wesemann
Bis vor kurzem durfte das deutsche Publikum nur zwischen drei Theaterstrukturen wählen: Da gab es das kommerzielle Privattheater, die Stadttheater und die Freien Gruppen. Mit dem Verbund einer vierten Generation, dem Frankfurter Theater am Turm, dem Berliner Hebbeltheater, der Szene Salzburg, den Wiener Festwochen, dem Brüsseler Kaaitheater und dem Felix Meritis in Amsterdam, wurde die Auswahl zum ersten Mal seit Jahrzehnten erweitert. Theater brauchte nicht länger nur ein Wienerwald, ein saturiert gutbürgerliches oder eine dilettierende Theaterfrittenbude mit linker Vergangenheit zu sein; Theater durfte endlich auch im Ambiente feiner Galerien und edler Sushibars glänzen.
Mit dem Umbau des Münchner Marstalls ist abermals eine Sushibar der Avantgarde entstanden, freilich im Stil einer Theaterfrittenbude, finanziert von einem gutbürgerlichen Lokal. Das Bayerische Staatsschauspiel übergab die einstige Probierstube für Möchtegerndramatiker an die Wiener Kunstkuratorin Elisabeth Schweeger. Ein hoher Theaterkubus dient als Arbeitsraum für eine vielleicht fünfte Theatergeneration. Neueröffnet wurde der Marstall mit einer Techno-Party. „Sage ich Theater“, so die künstlerische Direktorin Elisabeth Schweeger, „hört 80Prozent der Bevölkerung gleich wieder weg.“ Der alte Marstall wurde – wie es Hannah Hurtzig nannte – „besenrein getanzt“. Sodann übernahmen drei Damen das Haus – jene Hannah Hurtzig (Regie), dazu Barbara Bloom (Installation) und Shelley Hirsch (Vocals) – und legten ein wunderschön anzuhörendes One-Woman-Musical auf die Drehbühne.
Bei Musical, kein Wunder, hört 80Prozent der Bevölkerung wieder hin. Mit Shelley Hirsch, deren Stimme eine Modulationsbreite wie die der Diamánda Galás oder Cathy Barberian besitzt, wurde das Genre um einen hörbaren Faktor Kunst bereichert. Dafür legte die New Yorker Künstlerin Barbara Bloom der Hirsch nur Theaterfisimatenten vor die Füße. Sie brachte einen Globus, eine Uhr, ein Metronom unter Glas, eine Spiegelkugel und eine Blumenvase auf der Drehbühne zum Rotieren und dachte ob der Kugelform ihrer Objekte an Roulette. Also pinselte sie ein Roulette auf die Bühne, weil Roulette ein Glücksspiel ist und ihre Nachbarin in New York, Shelley Hirsch, so gerne improvisiert.
Deren Kunst freilich ist ein Glücksfall. Die gescheiterte Künstlerin Barbara Bloom dürfte an ihrem neuen Sujet Theater wenig Freude gefunden haben. Shelley Hirsch aber gab ein fulminantes Konzert und scheiterte nur, wo sie bedeutungsvolles Schauspiel hinlegen wollte. Immerhin mimte sie in ihrem kleinen Musical „The Passions of Natasha, Nokiko, Nicole, Nanette und Norma“ nicht weniger als fünf edle Damen: Marie Bonaparte, Katharina die Große, die heilige Theresa, eine Geisha und die Urmutter, repräsentiert durch fünf überflüssige Barbara-Bloom- Sofas, Kanapees, Betten, Futons und Couches. In der Mitte stand ein Barhocker. Er hätte der Hirsch vollkommen gereicht.
Die drei Musiker Anthony Coleman, David Simons und David Shea am DJ-Pult, an den Electro-Drums und am E-Piano begeisterten 60 (in Buchstaben: sechzig) Sponsoren. Kein anderes Theater in Deutschland hat bislang so viele verzückt applaudierende Damen und Herren im Publikum gesehen, die in der Absicht gekommen waren, der Geburt eines neuen Theaters mit ihrem Scheckbuch beizuwohnen. Der Pate, das Bayerische Staatsschauspiel, hat natürlich nachgeholfen. Und Sushi gab es auch, dazu ein paar gutbürgerliche Schmankerl und Frittiertes.
„Keine Konzepte, keine Programme, keine Routine“, erklärte Elisabeth Schweeger auf die Frage nach ihrem Konzept. Sie hofft, „der Institutionalisierung solange wie möglich zu entgehen“. Sie will keine Schauspieler, die schauspielern wie in jedem Theater, und auch keinen Schutzraum für sich gegenseitig unterwerfende Theaterleute. Künstler würden in einer solchen Atmosphäre der Unterwerfung sofort untergehen. „Nur Theaterleute fühlen sich in einem Theaterkerker wohl. Ich will ein Forum sich gleichberechtigt streitender Künstler aus allen Gattungen – auch der des Theaters.“
Elisabeth Schweeger arbeitete als Dramaturgin bei Frank-Patrick Steckel, damals in Bremen. Später wechselte sie an die Akademie der Bildenden Künste nach Wien zu Erich Wonder und realisierte dort erfolgreich eigenwillige Kunstausstellungen mit „fachfremden“ Künstlern wie Herbert Achternbusch und Peter Greenaway. Sie glaubt an die grenzüberschreitende Kunst und haßt diese Vokabel auf den Tod. Also spricht sie von Prozeß und denkt an John Cage, an die Auflösung jeglicher Kulturheiligkeit. Daß es eine Premiere des Musicals überhaupt gegeben hat, empfindet sie nicht als Muß. Ein öffentlicher Probenprozeß mit einer offiziellen Derniere hätte ihrem Prozeßgedanken eher entsprochen.
Soweit aber ist München noch nicht. Am Bayerischen Staatsschauspiel sind alle ängstlich und unsicher, was die so unverhofft erblühende kleine Schwester Marstall da treibt. Die Ägide Eberhard Witt hat sie zwar ermöglicht, noch aber wird in der Küche heftig gestritten. Und so eigenständigen Künstlern wie Shelley Hirsch und Barbara Bloom fehlt der Küchenchef; Hannah Hurtzig spielte da bewußt nur die Oberkellnerin. Das mag sich ändern mit „Gang Art“, einer Performance für Fotografen vor 35 schmelzenden Eisplatten, inspiriert durch eine Fotosafari mit weiblichem Model nach Bosnien- Herzegowina; ändern wird es sich durch das Theater von Lloyd Newson, der sich für Männer interessiert, die sich auf öffentlichen Toiletten sexuell begegnen. L'art pour l'art wird keine serviert. Statt dessen ein Durchzug durch die Fronten aller Künste: Bildhauer streiten sich mit Videoartisten, Medienkünstler mit Operntenören, um die Bühnen-Fenster zur Kunst nicht nur zu öffnen, sondern auch einzuschlagen. Gleichwohl spricht Elisabeth Schweeger immerzu von ihrer neuen Bar im Marstall, einem winzigen Tresen. Der gehört zu ihrem kulinarischen Konzept ebenso wie das ehemalige Sitzmobiliar aus der Vorstandsetage der Deutschen Bank, das sie für ihr Publikum soeben ergattern konnte. Ein gemütliches Theater mit guten Aussichten auf ein lustiges Hauen und Stechen auf dem Schlachtfeld der Avantgarde.
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