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„Große Angst vor Wiederholung“

■ Die konservative französische Regierung zittert vor einem Anwachsen der Streikbewegung / Präsident Mitterrand äußert Verständnis für die Streikenden / Gewerkschaften fühlen sich ermutigt

Berlin (taz) – „Es ist nicht unbedingt schlechte Politik, wenn man eingesteht, daß man sich geirrt hat.“ Mit diesen Worten kommentierte François Mitterrand am Montag abend die „Affäre Air France“. Der sozialistische Staatspräsident tat seine Äußerung in dem ersten großen Interview, das er seit Beginn der „Kohabitation“ mit der konservativen Regierung im März dieses Jahres im Elysée- Palast gewährte. Dabei erinnerte er indirekt auch an den „Mai 68“. Er warnte die Regierung, sie müsse „auf der Hut sein“. Der Streik könne einen „beispielhaften Charakter“ annehmen.

Auf Frankreichs Flughäfen griffen die Streikenden zur selben Zeit auf ein De-Gaulle-Zitat zurück: „Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber noch nicht den Krieg.“ Auch nach dem verkappten Rauswurf des Chefs der defizitären staatlichen Fluggesellschaft, Bernard Attali, und nach der Zusage der konservativen Regierung, ihren umstrittenen Sanierungsplan zurückzunehmen, ging ihr Ausstand gestern weiter. Erstmals schlossen sich auch die Piloten und das Kabinenpersonal an. Die 63.000 Air-France-MitarbeiterInnen verlangen schriftliche Garantien für ihre Arbeitsplätze und die Zusage, daß die Streikenden keine Sanktionen und Gehaltskürzungen zu befürchten haben.

In der Umgebung von Edouard Balladur soll es nach den Rückziehern heftig geknallt haben, berichten Mitarbeiter des Premierministers.

Balladur, der 1968 enger Mitarbeiter des damaligen Premierministers George Pompidou war, hatte angesichts des Ausstands bei Air France „große Angst vor einer Wiederholung“, erklärte Pierre Avril, Politikwissenschaftler an der Universität Sorbonne vor Journalisten. „Er machte einen Rückzug, um keine unkontrollierbare Situation zu riskieren.“

Erst vor drei Monaten hatte die Regierung ein Privatisierungsprogramm für 21 staatliche Unternehmen angekündigt, zu denen neben Air France auch die Bank Crédit Lyonnais, die Elektronikunternehmen Bull und Thomson und das Raumfahrtunternehmen Aérospatiale gehören. Zu den Kritikern der Privatisierungen gehört auch Mitterrand, der vor allem die Kontrolle über das für die „Landesverteidigung wichtige Unternehmen Aérospatiale“ nicht aufgeben möchte. Parteifreunde von Balladur fragen sich nun, wie der Premierminister sein Programm realisieren will, wenn er bereits beim ersten Kräftemessen klein beigibt. Ihnen ist auch rätselhaft, wie Balladur die Gatt-Einigung, die er noch in diesem Jahr anstrebt, durchsetzen will.

Bei Gewerkschaftsfunktionären und bei den Sozialisten, die sich bei ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende die Vier-Tage- Woche und den Kampf gegen den Sozialabbau auf die Fahne geschrieben haben, hat der Erfolg der Air-France-MitarbeiterInnen Euphorie ausgelöst. Ihre Erwartungen für den Mitte November geplanten Streik im öffentlichen Dienst sind hoch. Dorothea Hahn

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