Oskar Lafontaine, politische Zahlen und die Einheit

■ betr.: „Demokratie als Verfahren“ von Ulrich Hausmann, taz vom 15.10.93

Nüchtern betrachtet hat Oskar Lafontaine unrecht, wenn er die Verlangsamung der Anpassung der Ostlöhne und vor allem der Ostrenten an das Westniveau fordert. Und zwar nicht nur, weil Kaufkrafttransfer trotz mangelnder Produktivität den sozialen Crash für die ganze große Bundesrepublik verhindert. Sondern vor allem, weil er nicht bilanziert, welchen Gegenwert dieser Transferstopp für den Osten und die Bundesrepublik bringen sollte. Sollten wir Ostdeutschen etwa über einen Vorschlag diskutieren, der da lauten könnte: „Einfrieren des Lohnniveaus Ost bei 90 Prozent für fünf Jahre bei jährlichem Inflationsausgleich, dafür Schaffung von 500.000 Dauerarbeitsplätzen im Osten“, so werden wir über einen solchen Vorschlag diskutieren. Leider liegt dieser Vorschlag aber nicht auf dem Vereinigungstisch. Schon gar nicht die Zusage der Einheitsgewinnler in Deutschland, wie der Banken und Industriekonzerne, sich an solch einem Projekt zu beteiligen. Hat jemand beziffert, wieviel vom Kaufkrafttransfer in den Bundeshaushalt und in die Unternehmenskassen West zurückfließt? Mein Eindruck ist, daß sogar mehr als die Transfersumme von 180 Milliarden DM in die alten Bundesländer zurückfließt, also die Unternehmensgewinne, wenn im Osten erzielt, in den Westen zurücktransferiert werden.

Was wir brauchen, ist ein konzertiertes Aufbaukonzept. Daß das vor allem von den Tarifpartnern abhinge, auch wenn es politisch in Gang gebracht werden müßte, sei klargestellt. Wir Ostdeutschen werden zu jedem wirtschaftspolitischen Konzept die Diskussion aufnehmen, so es denn geeignet scheint, eine ausreichende Anzahl Arbeitsplätze neu zu schaffen.

Die Renten im Osten jedoch sind nicht kürzungsfähig. Zum ersten sollten eventuell neidische Bewohner der westlichen Bundesländer zur Kenntnis nehmen, daß es im Osten sehr wohl eine Rentenkasse gab. In diese zahlten fast alle Beschäftigten bis zur Wiedervereinigung ein. Daß diese Kasse im Staatshaushalt der DDR keine wertbeständige Größe hinterließ, ist nicht die Schuld der früheren Einzahler. Außerdem galt der Generationenvertrag auch in der DDR. Zum zweiten zahlen auch derzeit alle Beschäftigten in den neuen Ländern in die gemeinsame Rentenkasse ein. Im übrigen sollte Ulrich Hausman bei Gelegenheit einmal realsozialistische Frauenarbeitsplätze in Augenschein nehmen, an denen Rentenansprüche erworben wurden. Mein Vorschlag dazu sind die früheren Bunawerke oder eine beliebige Eisengießerei im Osten. Daß aus langen Beschäftigungsjahren hohe Renten resultieren, in Ost oder West, ist eben durch die langen Arbeitsjahre in jedem Fall auch verdient.

In einem Deutschland, in dem die Lebenshaltungskosten fast überall gleich hoch sind, ist es politisch kaum durchsetzbar, daß Löhne und Renten auch nur mittelfristig Einkommensunterschiede zwischen Ost und West begründen. Soll also ein gewisses Gefälle bei Löhnen mittelfristig bestehen bleiben, so muß ein Äquivalent, das moderne Arbeitsplätze heißt, dagegenstehen. Alle anderen Szenarien sind weder politisch noch sozial zu legitimieren, noch folgen sie demokratischen Grundsätzen, die in Deutschland bekanntlich im Grundgesetz festgestellt sind. Anderenfalls ergibt sich die Frage, welcher Interessenkreis in Deutschland die soziale und wirtschaftliche Einheit mittlerweile nicht mehr vollziehen will? Dieser Kreis möge sich zu erkennen geben. Kurt Weyh, Stellv. Fraktionsvor-

sitzender der SPD-Fraktion im

Thüringer Landtag