: Betr.: "Kino in Schwarzafrika"
Ein ständig aktuelles Problem des afrikanischen Kinos ist die Armut, hinter der die Unterdrückung in ihren verschiedenen Formen steht. Es mag in diesem Zusammenhang vielleicht überraschen, ist aber nicht ohne Interesse, sich auf einen „Elendsfilm“ wie „Monsieur la Souris“ (George Lacombe, 1942) zu beziehen. Dieser Film zeigt, daß Armut zu allererst eine „Form“ ist, in der Kultur, soziale Vorbilder und Geschichte eine Rolle spielen, und dann erst ein wirtschaftliches Phänomen. Die Figur des distinguierten Clochards, gespielt von Raimu, ist nur denkbar im Kontext einer bürgerlichen, städtischen, „zivilisierten“ Gesellschaft, deren Grundlage Wirtschaft, „Hochfinanz“ und, für das Gefühl, eine gewisse Romantik sind. Das Kino Schwarzafrikas hingegen gründet auf einem anderen Lebensraum, einer anderen Geschichte, einer anderen „Zivilisation“, einer anderen Wirtschaft, einer anderen Sensibilität. Selbst in den „Clochardfilmen“ (von Djibril Diop, in „Baks“, „Amanie“, „Ablakon“ oder „Xew-Xew“) wohnen wir einer „Radiographie“ der afrikanischen Gesellschaft bei, in der kein Platz ist für Selbstgefälligkeit oder Faszination,die wir in aller Unschuld Monsieur la Souris gegenüber empfinden mögen. „Bellissima“, von Luchino Visconti, ein weiterer „Elendsfilm“, im Zuge des italienischen Neorealismus entstanden, könnte dem afrikanischen Kino möglicherweise näherstehen als „Monsieur la Souris“: ein „integriertes“ Universum der kleinen Leute, deren Hauptsorgen Arbeit, Wohnung und der Wunsch, besser zu leben, sind; eine „Großstadtlandschaft“ aus der Perspektive eines Stadtviertels, das kleine Restaurant, die unbestreitbar realistischen Situationen, Gesten, Charaktere, Dialoge. Doch Luchino Visconti macht in erster Linie einen Film über das Kino, über die Faszination des Kinos, die Motor des Dramas ist bis zu dem Zeitpunkt, als Anna Magnani/Maddalena Cecconi die Probeaufnahmen ihrer Tochter vom Vorführraum aus anschaut und das „richtige Leben“ ihre Illusionen für immer zerstört. Bemerkenswerterweise findet man ein solches Thema im afrikanischen Kino kaum, weil die Kunst, wenn sie Sujet eines Films ist – „Mouna ou le rêve d'un artiste“, „Les Tam-tams se sont tus“, „Xew-Xew“, „Comédie exotique“... – immer „politisiert“ wird, Teil eines Diskurses, durch den sich militante Filmemacher ausdrücken.
Aus: „Kino in Schwarzafrika“ von
Pierre Haffner, Institut Francais
de Munich, 1989
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