EG-Europa inszeniert die Einigkeit

Heute treffen sich in Brüssel die EG-Regierungschefs zum Sondergipfel / Maastricht hat Europa verändert – aber anders, als es sich die Vertragsunterzeichner vorgestellt haben  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Die „Zeit des Wartens und der Schwermut“ sei nun vorbei, sagt der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, und meint, daß die EG nun darangehen könne, die Verträge von Maastricht umzusetzen – oder das, was nach zwei Jahren davon übriggeblieben ist. Wenn sich die zwölf Regierungschefs heute in Brüssel zum Sondergipfel treffen, werden sie feststellen, daß die Realität in den letzten zwei Jahren schneller war als die Ratifizierungsverfahren in ihren Ländern.

Der Fahrplan für die Währungsunion ist durch vertragswidriges Verhalten einiger Teilnehmer ungültig geworden. Selbst die Hoffnung, daß das gemeinsame Geld, wenn schon nicht 1997 und sicher auch nicht 1999, dann eben ein, zwei Jahre später erreicht werde, stößt bei der Spitze der Eurobanker allenfalls auf müdes Lächeln. Ein gemeinsames Währungsinstitut, das laut Maastricht-Vertrag geschaffen werden und jetzt ebenso wie weitere zehn Institutionen in einem der Mitgliedsländer untergebracht werden soll, macht noch keine Währungsunion.

Auch das große Ziel der gemeinsamen Außenpolitik war viel zu weit gesteckt, wie die wenig gemeinsame Haltung der westeuropäischen Gemeinschaft angesichts des Gemetzels im ehemaligen Jugoslawien gezeigt hat. Immerhin ist Europa um die Erkenntnis reicher, daß sich eine einheitliche Außenpolitik nicht verordnen läßt, sondern höchstens durch ähnliche Einsichten zustande kommt. Der Vertrag von Maastricht sieht nur in Randbereichen wie der Rüstungskontrolle gemeinsame Aktionen nach Mehrheitsentscheidungen vor. Bei wichtigen Fragen aber räumt er jedem Land ein Vetorecht und genügend Spielraum für Alleingänge ein.

Auch nach dem 1. November, wenn der Vertrag in Kraft tritt, werden sich die europäischen Außenminister im Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und bei vergleichbaren Krisen gegenseitig daran hindern, mehr zu tun, als flammende Reden zu halten, umkämpften Städten spektakuläre Visiten abzustatten und den Schwächsten die Waffen zur Selbstverteidigung wegzunehmen.

Zwei Jahre nach Maastricht sind die Grenzen der europäischen Integration deutlicher als zuvor. Daran ist auch, aber nicht nur die wirtschaftliche Krise schuld, die immer als Erklärung herhalten muß, wenn das nationale Hemd näher ist als der europäische Rock. Seit mit dem Ostblock auch das Gefühl der gemeinsamen Bedrohung verschwunden ist, ist die Frage nach Sinn und Zweck der EG wieder zugelassen. Drei Volksabstimmungen, zwölf teils hitzige Parlamentsdebatten und eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht haben in fast allen EG-Staaten eine breite Diskussion über die Vor- und Nachteile einer weiteren europäischen Einigung gebracht, an deren Ende Europa um einige Illusionen ärmer ist.

Nicht, daß die öffentliche Diskussion von reiner Sachlichkeit gewesen wäre und daß ihr offensichtliches Ergebnis – etwa die Hälfte der Bevölkerung für, die andere Hälfte gegen ein föderales Europa – nun jede weitere Entwicklung auf eine politische Union verbieten würde. Immerhin ist trotz aller Kritik und Skepsis die EG nirgends grundsätzlich in Frage gestellt worden, aber sie hat viel von ihrem Mythos eingebüßt. Die Europäische Gemeinschaft wird von ihren BürgerInnen zunehmend unter rein pragmatischen Kosten-Nutzen-Aspekten gesehen.

Einige Klarstellungen waren überfällig. Zum Beispiel, daß die EG nicht Europa ist und daß nicht alles automatisch gut ist, wenn nur Europa draufsteht. Das konnte man auch schon vor Maastricht wissen, ebenso wie die Erkenntnis, daß die EG aufgrund ihrer Struktur dazu neigt, übermäßig viel Bürokratie anzusetzen und daß sie unter Demokratie-Defiziten leidet. Aber erst die Diskussion um Maastricht hat solchen Einsichten Breitenwirkung gegeben.

Doch in den letzten zwei Jahren hat sich noch eine andere Illusion aufgelöst: daß die europäische Integration jedwedem Nationalismus den Boden entziehen werde. Besonders optimistische ZeitgenossInnen träumten vom Europa der Regionen, in dem die Nationalstaaten ihre Kompetenzen auf die regionale und die europäische Ebene aufteilen und dann mangels Aufgaben einfach eingehen würden. Danach sieht es im Moment nicht aus.

Es ist schwer zu erkennen, wie der vor allem von deutscher Seite immer wieder beschworene europäische Bundesstaat entstehen soll. In allen wichtigen Fragen, ob es sich um Gatt oder um die Biozid-Richtlinie, ob um Stahlsubventionen oder die Sozialcharta handelt, wird auf europäischer Ebene national argumentiert und entschieden. Dort wo in Brüssel und Luxemburg die Entscheidungen fallen, in der Kommission und im Ministerrat, da gibt es keine Parteien, sondern nur Nationalitäten. Selbst Regierungswechsel in den Mitgliedstaaten werden lediglich zur Kenntnis genommen, an den Verhandlungspositionen ändern sie nichts: Zwölf Volkswirtschaften kämpfen um den Vorteil.

Es paßt durchaus zusammen, wenn Kohl und Mitterrand in einem offenen Brief an den belgischen Premierminister die EG als „Schicksalsgemeinschaft“ beschwören, während fast zur selben Zeit ihre Außenminister den belgischen Kollegen darauf festnageln, beim Gipfel keine kontroversen Themen auf den Tisch zu bringen, weil sonst soviel gestritten wird. Die Belgier haben zur Zeit den Vorsitz im Rat und bestimmen, was angesprochen wird. Die inszenierte Einigkeit wirkt auch deshalb ein bißchen lächerlich, weil die EG-Mitglieder nach Gemeinsamkeiten suchen müßten, die über das schnöde Prinzip des Wirtschaftsegoismus hinausgehen.

Europa steht vor Aufgaben und Herausforderungen, die das Pathos von der „Schicksalsgemeinschaft“ rechtfertigen könnten. Aber die EG-Politiker tun immer noch so, als ob sie das Ende der europäischen Teilung nichts anginge. Ein paar Handelserleichterungen für Warschau, Budapest, Prag und Preßburg, ähnlich denen, die Brüssel den karibischen Staaten zugesteht, und ein Expertenprogramm zur Sicherung der bröckelnden Atommeiler, auf viel mehr konnten sich die zwölf Regierungen bisher nicht einigen. Die Angst vor 500 Tonnen polnischem Schaffleisch reichte aus, um die Verhandlungen über Monate zu blockieren.

Auf dem Gipfel in Brüssel werden sich die westeuropäischen Regierungschefs wieder aufs Wesentliche konzentrieren und in zähem Ringen den Standort der künftigen Arzneimittel-Agentur festlegen.